Aphorismen zur Heilpädagogik
- Herrn Prof. Dr. Wolfgang Klenner zum 70. Geburtstag -


Am 6. 2. 1991 wurde W. Klenner 70 Jahre alt. Als sein Schüler und Mitarbeiter bin ich ihm ein gutes Dezennium lang verbunden. Den Mitgliedern unseres Berufsverbandes sei der Jubilar in Erinnerung gebracht:
Klenner ist kein Heilpädagoge, sondern Psychologe. Dies ist ihm immer wichtig: Die Ausbildung in einem Fach begründet die professionelle Identität, nicht irgendein berufliches Zugehörigkeitsgefühl. Als Psychologe fühlte und fühlt sich Klenner zur Heilpädagogik zugehörig.
1950 schließt er das Studium der Psychologie mit dem Diplom in Göttingen ab. Es folgt die Leitung des Evgl. Lehrlingsheimes „Wichernhaus“ in Hagen (1951-53). Fortan arbeitet er als Psychologe in den von Bodelschwingh´schen Anstalten, in Eckardtsheim (bis 1964). Daneben übt er mehrere Unterrichtstätigkeiten aus und promoviert 1964 in Göttingen mit dem Thema „Zukunftsperspektiven bei erziehungsschwierigen männlichen Jugendlichen“.
1963/64 gründet er mit Pastor Klaus Richter die 2. Ausbildungsstätte (das erste Institut wurde im Okt. 1963 an der Heckscher-Klinik in München eröffnet) für Heilpädagogik nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland. Das Institut für Heilpädagogik Bethel („HPI“) in Bielefeld nimmt unter seiner Leitung im Mai 1964 die ersten Seminaristen auf. 1973 erhält das Institut den Status einer Fachhochschule.
1964 initiiert Klenner die Gründung einer Ständigen Konferenz von Ausbildungsstätten für Heilpädagogen in der BRD. Seit 1964 ist er Vorstandsmitglied in der Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe 
(AFET e. V.).
Neben seiner Dozententätigkeit ist seine praktische Arbeit mit „heilpädagogisch bedürftigen“ (Hagel) Kindern und deren Eltern hervorzuheben und ebenfalls seine Tätigkeit als Gerichtssachverständiger, insbesondere für Familienrechtssachen. Bereits in den 70er Jahren werden im HPI Kinder und deren Eltern betreut. Da die ‚Nachfrage‘ immer größer wird, wird 1980 eine Erziehungsberatungsstelle mit Namen „Heilpädagogische Ambulanz“ institutionalisiert.
Dort ist zunächst die Absicht, die „Brauchbarkeit der heilpädagogisch-theoretischen Erkenntnisse zu überprüfen“ und die praktischen Erfahrungen einfließen zu lassen in den Hochschulbetrieb. Nach seiner Emeritierung (1983) bleibt Klenner bis 1986 Leiter der Heilpädagogischen Ambulanz. Aus zahlreichen Veröffentlichungen in Form von Bucheinträgen und Zeitschriftenartikeln will ich zwei hervorheben:

a)       Heilpädagogik als Handlungswissenschaft – dargestellt am Beispiel der Heilpädagogischen Übungsbehandlung, In: Schneeberger (Hg.): Erziehungserschwernisse. Luzern 1979.

b)       Vertrauensgrenzen des psychologischen Gutachtens im Familienrechtsverfahren, FamRZ 1989, 
Heft 8

Die folgenden Aphorismen zur Heilpädagogik stellen eine Sammlung vor, die zum Nachdenken anregen soll.

Heilpädagogik ist ein Phänomen, kein eigentliches System. Aus einem System können Menschen herausfallen – aus einem Phänomen nicht. Jeder Mensch ohne Ansehen seiner Person gehört zur Menschheitsfamilie. Alls Aspekte dieser Zugehörigkeit wie z. B. die menschliche Würde, die Erziehung und der Schutz menschlichen Lebens, bilden das Phänomen Heilpädagogik. Weil das Selbstverständliche nicht uneingeschränkt selbstverständlich ist, braucht es Heilpädagogik. Es gibt keinen einzigen Grund, Menschen aus ihrer eigenen Gemeinschaft auszuschließen. Jeder Mensch hat einen besonderen Daseinswert. Dies ist ein anthropologisches Axiom!

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Menschen in schicksalsbedingten Grenzsituationen brauchen Menschen, die ihnen eine außer-gewöhnliche Zuneigung entgegenbringen. Der „Aufbruch ins Ungeahnte“ (R. Schutz) eröffnet Wege, die dem Unabänderlichen trotzen. Hier ist „nüchterne Leidenschaft“ (Klenner) gefragt – Liebe ohne Begehren.

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Heilpädagogik ist zutiefst eine Haltung, eine Gesinnung, die nicht zu erlernen ist wie reproduzierbares Wissen. Haltungen können jedoch durch ständige Vertiefung (Kontemplation) erworben werden. Schließlich sind Haltungen real fühlbar und wirksam, wie z.B. als Vertrauen oder als Zuneigung. Übungen der Vertiefung in pädagogische Phänomene sind mindestens ebenso bedeutsam in der Aus- und Weiterbildung von Heilpädagogen wie Kenntnisse von reproduzierbarem Wissen.

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Zur Heilpädagogik gehört die Bereitschaft, sich von ausweglos erscheinenden Situationen herausfordern zu lassen. Diese Bereitschaft ist unabhängig von dem Maß irgendeines Erfolges. Offen sein zur Hin-gabe heißt, Lust haben, Sinn zu suchen (Sinnlust), wo Sinnlosigkeit sich auszubreiten droht. Sinn ist nicht lehrbar, aber glaubhaft. Sinngewißheit ist der Keim, der jedem Leben eigen ist.

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Lebensschicksale sind in ihrer Ausprägung einmalig. Die Wirklichkeit eines Schicksals wird subjektiv erlebt. Trotz objektiver Vergleichbarkeit ist die innere Befindlichkeit eines Menschen für ihn und sein Leben entscheidend. Verstehendes Wissen eröffnet Erkenntnisse von der Einzigartigkeit eines anderen Menschen. Es ist dies die Voraussetzung für eine helfende Beziehung: „Erst verstehen, dann erziehen“ (Moor). Bemühung um vorurteilfreies Schauen des mir noch Unbekannten, ja Fremden.

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Wenn Heilpädagogik nur ein methodisches System wäre, zielte es ab auf Menschen mit Symptomen, die formal feststehen (wie z.B. die Enurese). Symptomkategorien können jedoch nicht umfassend sein: der Mensch ist nicht identisch mit seinem Symptom. Jedes Schicksal hat seine eigene Genese und eigene Kontexte:

Jedes Problem hat sein eigenes Netzwerk. Wir brauchen folglich Methoden der Improvisation, Mut zum Versuch bzw. variable Übungsanordnungen (vgl. .die Klenner´sche HPÜ, um dem sog. Einzelfall gerecht zu werden. 

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Die Wirksamkeit von Interventionen, wie generell in der Erziehung, erschließt sich immer erst im Nach-Hinein. Die Reflexion ist das pädagogische Korrektiv für weiteres Handeln. Wir brauchen also Prämissen bzw. komplexe Leitlinien zum Denken und Handeln und keine einengenden Handlungsmuster. Die Ausbildung des Kreativen, die Förderung der „geistigen Weite“ (Klenner) und die spielerische Abwägung der verschiedenen Denk- und Handlungsmöglichkeiten bedingt die Begegnung mit dem irreversiblen Schicksal. Begegnung ist Bewegung in einer Zeit der Gemeinsamkeit auf etwas Werthaftes hin. 

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Wir können die Heilpädagogik weder ein- noch abgrenzen, weil wir dannGefahr liefen, jemand auszugrenzen. Uns bleibt die Aufgabe der Akzentuierung im Individualfall. Insofern ist die angewandte Heilpädagogik Erziehungskunst. Heilpädagogik ist etwas Komplementäres – ungeeignet für Konkurrenz. Solidarität mit Leidenden ist die Bereitschaft, sich selbst das Anliegen eines anderen zueigen machen. Reduzierung der Distanz-Bewegung auf völlig unsicherem Terrain.

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Heilpädagogik ist unentwegt Arbeit an Voraussetzungen. Bevor Leben gelingen kann, braucht es Hilfen. Kein Mensch kann alleine oder isoliert auf-wachsen. Aus den eigenen Lebensansprüchen lassen sich Niveau-Ebenen ableiten. Ein Beispiel: Das Ziel, frei enscheiden zu können, ist an die Voraussetzung gebunden, unterscheiden zu können (Diakrise). Unterscheidungsübungen haben den Sinn, jemanden zu befähigen, Entscheidungen zu zwischen mindestens zwei Alternativen treffen zu können.

Während wir uns mit der Arbeit an geeigneten Voraussetzungen befassen, obliegt es dem anderen (z.B. dem Kind), aus dem Angebot frei zu wählen (vgl. das Prinzip der freien Wahl bei Montessori). Hilfen zur Wahrnehmung eröffnen Entscheidungsmöglichkeiten für ein verantwortliches Leben in Freiheit.

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Die meisten Lebenssituationen (Schicksale), mit denen wir in Berührung kommen, haben wir in der Regel nicht selbst erfahren (z.B. geistige Behinderung; Alkoholismus; Probleme des Alterns). Wir können in unserem Beruf nicht immer auf Selbsterfahrung zurückgreifen. Wir werden als Sachfremde, als Unerfahrene beansprucht. Das fordert unseren tiefen Respekt vor dem anderen (alles andere als Hybris) und die Offenheit, von dem anderen zu lernen. So ereignet sich Begegnung (nach Bollnow).

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Heilpädagogik bewegt sich im Spannungsfeld von Veränderbarem und Hinzunehmendem. Irreparabel sind alle in der Vergangenheit liegenden Ereignissen und alle zukünftigen Unwegbarkeiten. Nicht jedes Leid (Leid als existell unerwünschtes Faktum) ist vermeidbar oder aus der Welt zu schaffen. Ein professioneller Machbarkeitswahn leugnet manche Schicksalsrealität. Auch wir sind Angewiesene ...

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Heilpädagogik – das ist die Lust am Unfertigen, Ungewissen, am Ungeahnten. Im Moment des Nicht-mehr-weiter-Wissens – innehalten, Staunen über das Unfaßbare, um sich dann Zeit zu lassen für Schöpferisches und vielleicht einen Werte-Wandel. Das Tempo, mit dem oft Veränderung erzwungen werden will, ist meist nicht einzuhalten. Symptome oder Probleme sollen schnellstens verschwinden. Erkennen und Handeln haben aber eine eigene Dynamik. In unserem Zeitalter der Geschwindigkeit geraten unsere Bemühungen, die eben Zeit brauchen, zum Kontrast. Erfolgsdruck ist häufig gepaart mit Zeitdruck. Stressoren dieser Art sind in der Heilpädagogik fehl am Platz.

Wachsen braucht Zeit ebenso wie der Gewinn tragfähiger Lebenswerte.

veröffentlicht in: BHP Informationen (6) 1991/2 [Berufsverband der Heilpädagogen, Büdelsdorf]

      

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