Referat am 27.11.99 (11.30 – 12.15 Uhr) – Fachakademie Regensburg –                                                20 Jahre Fachakademien in Bayern!

 

Dieter Lotz
Überlegungen zu einer Berufsethik in der Heilpädagogik

Sehr geehrte Frau Dr. Tammerle – Krancher!
Sehr geehrte Festversammlung, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als vor 20 Jahren die Fachakademien in Bayern hier in Regensburg gegründet wurden, hörte ich etwa zur gleichen Zeit erstmalig
den Begriff "Heilpädagogik". Vor genau 20 Jahren war ich gerade eingeschrieben als Student im Institut für Heilpädagogik in Bielefeld. Seit dieser Zeit bin ich der Heilpädagogik treu geblieben. Und Sie werden nachvollziehen, dass ich mich Ihrem Jubiläum auch mit meiner Biografie gut anschließen kann.  – Herzlichen Glückwunsch!


Als ein amerikanischer Journalist zusah, wie Mutter Teresa die stinkende, ekelerregende Wunde eines alten 
Mannes versorgte, meinte er: 
"Ich würde das nicht für eine Million Dollar tun." 
Mutter Teresa antwortete: "Ich auch nicht."



Meine "Überlegungen zu einer Berufsethik in der Heilpädagogik" waren nicht ganz einfach, weil ich ein umfassendes Thema leicht verständlich übermitteln will und den Anspruch habe, die Inhalte als brauchbar und in der heilpädagogischen Praxis umsetzbar darzustellen.

Zunächst möchte ich Ihnen etwas zum Begriff Ethik sagen:
Unter
Ethos verstand man im alten Griechenland (Aristoteles) "den gewohnten Ort des Wohnens, die Gewohnheit, die Sitte und den Brauch".
Unter Ethik  versteht man aber auch Haltung. Sie ist die Lehre vom Guten und seinen Gegensätzen, von den Prinzipien des sittlichen Handelns und von den sittlichen Werten. (Dorsch 199412)
Etwas naiv können wir -ethisch- fragen: Wer oder was ist gut? Was hat sich in unserer Gesellschaft als gut bewährt, was bedroht möglicherweise das von uns als gut Wahrgenommene?

Dreh- und Angelpunkt ist in meinem Referat die Selektionstheorie und hier besonders die Gefahr der Aussonderung bestimmter Mitmenschen. Und: mit welchen Haltungen und Mitteln können wir in der Heilpädagogik auf die Provokation möglicher und tatsächlicher Ausgrenzung antworten? Denn unser Klientel ist von Aussonderung und Ausgrenzung mehr oder weniger schon immer bedroht. 

Nach einem Blick in die Geschichte (a) werde ich Ihnen drei Ethiktypen vorstellen und daraus mögliche Konsequenzen für die Heilpädagogik (b) aufzeigen. 
Zum Ende des Referates will ich weitere Schlussfolgerungen für die heilpädagogische Praxis ziehen (c).


Zunächst ein Blick in die Geschichte (a)

Selektion und heilpädagogische Impulse
Zwei Jahre bevor der Begriff Heilpädagogik durch Georgens und Deinhardt in die Welt gebracht wird, nämlich heute vor 138 Jahren (1861), veröffentlicht der Brite Charles Robert Darwin (1859) ein Buch mit dem Titel 'Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese'.
Natürliche Auslese oder Selektion bedeutet, dass Mitglieder einer Art, z.B. eine Gruppe von Menschen oder eine bestimmte Tierrasse, verschieden sind und einige ihrer Vertreter den sog. Kampf ums Dasein besser bestehen und sich schneller als andere an veränderte Realitäten der Umwelt anpassen. Diese Anpassungsfähigkeit vollbringen andere Artgenossen nicht. Sie bleiben zurück, bleiben auf der Strecke und verkümmern. Auf diese Weise entwickeln sich die verschiedenen Arten über ihre stärksten und überlebensfähigsten Mitglieder weiter (Evolution).

Jeder von uns folgt dem Selektionsprinzip: 
Im persönlich – zwischenmenschlichen Bereich beispielsweise suchen wir uns Mitmenschen, mit denen wir uns geistig austauschen können, mit denen wir gemeinsame Interessen teilen oder mit denen uns emotional etwas verbindet. Die uns weniger zusagen schließen wir oft aus.
Egoisten pointieren diesen natürlich-normalen Sachverhalt so: ich bin mir selbst der Nächste, wo ich bin, ist vorne – es zählt das Stärkere, das Gesündere, das Schönere, Erfolgreichere, der Reichere. Überlegenheit und Macht sind die angestrebten Folgen. Allein schon das Erkennen des Starken, Schönen, Schnellen usw. beinhaltet die Wirklichkeit der jeweils anderen Seite. Das bemerkte bereits Laotse als er sinngemäß sagte: wer das Schöne als schön erkennt, definiert indirekt sein Gegenteil: das Hässliche.

Für mich ist die "natürliche Auslese" in der Tat ein Kampf ums Dasein, eine Realität, in der ich aktiv und nicht nur distanziert zuschauend, beteiligt bin. Und ich habe heute auch den Eindruck, dass nicht nur unser heilpädagogisches Klientel ums Dasein kämpft, auch die Heilpädagogik und Heilpädagoginnen stehen in diesem Kampf, um ihre Arbeit in Konkurrenz zu den vielen erfolgverheißenen Therapien zu rechtfertigen.

Die Entdeckung, dass das Leben Kampf bedeutet, und die existentielle Herausforderung mitkämpfen zu müssen, um zu überleben, muss wohl auch Heinrich Hanselmann erschüttert haben.  
Wie Sie wissen, erhielt Hanselmann 1931 die erste Professor für Heilpädagogik in Europa. Von ihm wird folgende Anekdote erzählt:
Als kleiner Junge wird er gefragt, was er denn später werden wolle und er antwortet: "Am liebsten glücklich!" Als ihn dann die umstehenden Erwachsenen auslachen, tröstet ihn seine Mutter und sagt: "dass man selbst nur glücklich werden kann durch Glücklichmachen!"  
Später als Student in einem Mikroskopiersaal ist Hanselmann, wie er selbst sagte, an der Lehre seiner Mutter irre geworden. Dort erkennt er nämlich, "daß es eine Welt ohne Leiden nicht geben kann, denn Lebendiges erhält sich nur durch Untergang von Lebendigem!"

Die tatsächliche Selektion unter Menschen, also ihre unterschiedlichen sozialen Ausgrenzungen, ist aus meiner Sicht die zentrale Herausforderung an eine Heilpädagogische Ethik.
Und es drängt sich gleich die Frage auf, ob die natürliche Auslese denn die einzige Wahrheit ist, die menschliches Zusammensein und menschliche Entwicklung bestimmt. Und konkret gefragt: Was ist das Motiv zu helfen, in dem leidende Menschen nicht ausgegrenzt sondern integriert werden? Was bestimmt den heilpädagogischen Impuls, den Gegenspieler der allgegenwärtigen Selektion?

Seit Menschengedenken kümmern sich Menschen um ihresgleichen. Vereinsamung, Krankheit, Siechtum im Alter und viele andere Lebensumstände wurden von Einzelnen nicht einfach hingenommen, fatalistisch[1] oder mit Gleichgültigkeit. Vielmehr forderten diese Umstände Einfallsreichtum, also Ideen von hilfswilligen, ja stärkeren oder kompetenteren Mitmenschen geradezu heraus. Und dieser Impuls ist nicht nur in der Medizingeschichte nachweisbar, auch in der Geschichte der Heilpädagogik.

Selektion (natürliche Auslese) Ü Heilpädagogische Impulse
                                                   (z.B. Nächstenliebe)

     Segregation   Þ    Integration

 

 

Zwei von vielen Beispielen:

Vor über 160 Jahren wandert der junge Medizinstudent Hans Jakob Guggenbühl (1816-1863) durch die Schweizer Alpen und entdeckt eine Kretine –heute würden wir von einer Geistigbehinderten sprechen- die vor einem Marienbild kniet und deutlich ein Ave-Maria betet. Dieses Erlebnis erschüttert Guggenbühl derart, dass er ein feierliches Gelübde ablegt, indem er sein Leben Menschen mit geistiger Behinderung weiht. Fünf Jahre später (1841) eröffnet er als Folge seines Impulses eine Anstalt zur Erziehung von Kretinen.  
Zur selben Zeit (1841) wird in Turin Giovanni Bosco zum katholischen Priester geweiht. Er sammelt alle verwahrlosten Jungen von Turin, die Bettler und Diebe, Strolche und Müßiggänger. Er erteilt ihnen sonntags Unterricht und spielt mit ihnen. Und es wird über ihn berichtet, dass nicht "seine Strenge, sondern seine Kraft und Güte, sein Mut und seine Besessenheit, für sie da zu sein, diese Bande zusammenhält" (König 1969, 307).

Der Urimpuls zu helfen hat unterschiedliche Gründe. Ein zentral christliches Motiv ist die Nächstenliebe. Ohne Für-sorge und Hilfswillen, ohne Caritas und Diakonie wäre ein menschenwürdiges Zusammenleben nicht vorstellbar. Mimi Scheiblauer (1891 – 1968), die bekannte Züricher Rhythmiklehrerin sagte einmal: "In jedem Leben steckt etwas Göttliches – darum gibt es kein unwertes Leben, und es ist unsere Aufgabe, jedes Leben lebenswert gestalten zu helfen."

Ich weiß nicht, ob Sie sich hier, jeder für sich, der Frage gestellt haben, was Sie in den Beruf der Heilpädagogin hinein bewegt hat. Ich meine, es lohnt sich, dieser Frage immer mal wieder nachzugehen im Laufe der heilpädagogischen Ausbildung und später im Beruf.

M

Medizinische, heilpädagogische und andere Impulse, Menschen in ihrer Not und in ihrem Leid zu helfen sind für mich gleichsam der Ursprung ethischer Bewusstheit. Dadurch wird dem Darwinismus eine starke Kraft entgegengesetzt. Diese ethische Bewusstheit geht einher mit der menschlichen Erfahrung, nichts einfach so hinnehmen zu müssen, wie es sich uns aufdrängt. Wir sind als Menschen nicht verdammt uns treiben oder gehen zu lassen. Wir sind vielmehr frei mit unseren Gegebenheiten

-          zu spielen - Handlungsspielräume zu erkunden M                          
-          sie zu gestalten - Zukunftsperspektiven zu entwickeln M
-          sie zu verändern – ungünstige Verhältnisse nicht zu belassen M
-          sie zu kultivieren – menschliche Umgangsweisen zu verbessern M

Freiheit und Verantwortung  
Übrigens ist mir diese spezifisch menschliche Freiheit klar geworden in der Kritik Viktor E. Frankls, dem Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, an der Psychoanalyse und am Behaviorismus:  
Denn Frankl sagt, der Mensch ist nicht nur ein sich triebhaft ab-reagierendes Wesen oder ein bloß auf Reize re-agierendes Wesen, sondern der Mensch ist vor allem ein agierendes Wesen. Er hat die Freiheit sich auf Lebensbedingungen einzustellen, er kann Stellung zu sich und zu anderen beziehen und kann noch in ausweglos erscheinenden Situationen Sinn finden. Diese Anthropologie gibt Hoffnung, sie eröffnet den Blick für Spielräume und Lebensperspektiven trotz erschwerter Bedingungen. Paul Moor übrigens sieht aus heilpädagogischer Sicht dieselbe Sache genauso indem er fragt, wie ein entwicklungsgehemmtes Kind trotz seiner beschränkten Möglichkeiten zu einem erfüllten Leben kommt (Moor 1965, 260).

Menschen haben die Entscheidungsfreiheit, sich treiben zu lassen und sich hauptsächlich um ihre eigenen Vorteile zu kümmern. Oder sie entscheiden sich –zumindest zeitweise- dafür, von sich selbst abzusehen auf andere und anderes hin. Frankl nennt das "Selbsttranszendenz".

Die Freiheit des Menschen ist gekoppelt an seine Verantwortung. Zwei zentrale ethische Begriffe: Freiheit und Verantwortung.

Ich will mich grundsätzlich für eine personale Verantwortung aussprechen. Eine kollektive Verantwortung, wenn es sie denn gäbe, zeigt sich mir in Erfahrungen von Unverbindlichkeiten, wie ich sie im Umgang mit Behörden kenne, z.B. bei Jugendämtern, Versicherungsgesellschaften oder Arbeitsämtern. Niemand scheint dort haftbar zu sein, ich rede mit einem Amt, mit wechselnden Sachbearbeitern und Zuständigkeiten, bekomme unterschiedliche Auskünfte, werde hingehalten, dann erinnert sich niemand, werde mit langen Wartezeiten vorgeladen usw.  
In der heilpädagogischen Arbeit, die einen Beziehungsaufbau und eine Beziehungsgestaltung verlangt, ist die personale Verantwortung unumgänglich. Träger und Leitungen sollten Heilpädagogen ein Höchstmaß an Verantwortung einräumen. Nur wenn sie im Rahmen ihrer Zuständigkeit nicht weisungsgebunden arbeiten, können sie ihr Knowhow entfalten und werden so als gleichrangige Mitarbeiter wertgeschätzt. Auf der anderen Seite ist über den Verantwortungsbereich auch Rechenschaft abzulegen. Die erteilte Verantwortung ist eine Bevollmächtigung bzw. Vollmacht und sie verlangt in allen demokratischen Gesellschaftsformen Rechenschaft, damit die Macht, die wir in der Heilpädagogik haben, nicht ausgenutzt wird. Das wäre Willkür.


Ich möchte Ihnen jetzt im zweiten Teil drei bekannte Ethiktypen vorstellen und sie jeweils in Beziehung setzen zur Heilpädagogik. Anschließend widme ich mich der Frage einer Heilpädagogischen Ethik (b).

1.) Präferenz-Utilitarismus  
Der Utilitarismus ist jene philosophische Lehre, die im Nützlichen die Grundlage des sittlichen Verhaltens sieht. Sie erkennt ideale Werte nur an, sofern sie dem einzelnen oder der Gemeinschaft nützen (Lexirom). Präferenz bedeutet "Vorrang", und Vorrang hat in diesem Ethiktyp alles das was nützlich ist.
Einer der bekanntesten Vertreter des sog. Präferenz-Utilitarismus ist der australische Bioethiker Peter Singer (*1946). Nach seiner Auffassung haben nur Menschen Anspruch auf Optimierung des individuellen Glücks, welche ein Minimalmaß an Intelligenz, Explorationsdrang, Selbstbewusstsein, Zeitgefühl und sprachlicher Kommunikationsfähigkeit erreichen. Dabei ist - nach Haeberlin - eine quantifizierbare Angabe zum 'Minimalmaß' bisher nicht vorgelegt worden (Haeberlin 1999, 72). Doch wer diese Minimalkriterien nicht erfüllt, gilt nicht als Person und hat keinen Anspruch auf Optimierung des eigenen Glücks. Nach utilitaristischer Auffassung muss moralisch gutes Handeln eine Vergrößerung des 'Glücks' der beteiligten Menschen und gleichzeitig des Nutzens für die Gesellschaft zur Folge haben. In dieser zwingenden Verknüpfung von Glücksoptimierung und Nutzen sehe ich das Hauptproblem dieser Ethikvorstellung. Wer der Gesellschaft nichts nützt, der hat kein Daseinsrecht.
Der Bezug zur Heilpädagogik ist bekannt: Utilitaristische Gedanken führen in letzter Konsequenz zur Euthanasie von Menschen mit Behinderungen. Und Euthanasie lehnen wir kategorisch ab. Ich will hier nicht weiter auf diese Auseinandersetzung eingehen, sondern vielmehr das Thema des Glücks aufgreifen. Warum müssen Glück und Nutzen in dieser Unbedingtheit verknüpft werden? Warum reicht es nicht aus, Menschen zu ihrem Glück zu verhelfen ohne den Nutzwert mit ins Kalkül zu ziehen?
Übrigens lässt sich das Präfix 'Heil' in Heilpädagogik gut mit 'Glück' übersetzen. Die inhaltliche Bestimmung von Glück könnte mit Blick auf unsere Klientel eine heilpädagogische Aufgabe sein. Ich schließe mich hierzu folgender Formulierung des Bremer Neurochirurgen und Medizinethikers Detlev Linke an, der in Antwort auf Singers Thesen sagt: "Wir sollten einen ... Glücksdiskurs entwickeln, zu dem ich vor allem auch die Dichter und Künstler aufrufen möchte, vielleicht auch die Philologen, die dann darauf hinweisen mögen, dass es neben dem Glück auch die Glücksseligkeit gibt, nämlich das Erleben des eigenen Glücks und des Glücks im anderen zugleich" (Linke 1996).  

Zum Thema Nutzen möchte ich noch eine Anekdote einfügen:  
Neulich sprach ich beim Mittagessen in unserer Kantine mit dem Betriebswirt des Elisabethenstifts. Wir unterhielten uns über den Nutzen eines Salzstreuers. Zwar könne man beispielsweise die Größe des Streuers, seine Füllmenge, die Ausschüttung des Salzes oder den Preis des Glases messen, den Nutzen aber nicht. Denn der Nutzen ist von verschiedenen Variablen abhängig, die nicht linear vorhersehbar und folglich auch nicht messbar sind. Zum Beispiel davon, ob der Verbraucher salzarm essen muss, welches Essen nachgesalzen werden muss, wie viele Menschen den Salzstreuer gebrauchen usw.  
Im übertragenen Sinne kann der Salzstreuer als Metapher dienen für die Frage nach dem Nutzwert heilpädagogischer Arbeit – er lässt sich nicht messen!
Das wissen wir zwar schon lange, unsere Geldgeber bzw. Kostenträger sind aber erst vor relativ kurzer Zeit darauf gekommen und haben die Qualitätssicherung bzw. ihre Messbarkeit eingefordert. Seitdem haben wir ein Problem. Wir können zwar Räume, Betten, Therapiematerial und manches mehr messen, den spezifischen Nutzen heilpädagogischer Arbeit aber nicht. Beziehungsgestaltung, Intensität und Dauer von Förderungen, den Zeitaufwand von beratenden oder tröstenden Gesprächen – und Vieles weitere mehr, all das lässt sich nicht messen.
Wie also können wir den Geldgebern unserer Arbeit beweisen, dass unsere Arbeit wert- und sinnvoll ist? Mit volks- und betriebswirtschaftlichen Argumenten können wir nicht aufwarten. Denn unser Klientel ist volkswirtschaftlich nicht gerade rentabel. Sie kostet mehr als sie einbringt.  
Eine
mögliche Konsequenz für die Heilpädagogik könnte darin bestehen, dass Einrichtungen Leitbilder entwickeln. Bestehende Konzeptionen könnten mit Blick auf die Qualität heilpädagogischer Arbeit überprüft und modifiziert werden. In der Fachdiskussion ist dieser Anspruch nicht neu. Der Auseinandersetzung mit ihm in Ausbildungs- und Praxisorten wird meines Erachtens noch zu häufig ausgewichen. Der Vorschlag, Leitbilder zu entwickeln bezieht sich insbesondere auf den nächsten Ethiktyp.

2.) Prinzipienorientierte Ethik (Deontologie)
Der zweite Ethiktyp, die prinzipienorientierte Ethik, oder Deontologie, bekennt sich zu Grundprinzipien moralischer Gesinnung. Ihr bekanntester Vertreter ist Immanuel Kant (1724-1804). Die Grundprinzipien bestimmen das Denken und Handeln einer Gemeinschaft, die sich diesen allgemein gültigen Regeln allerdings verpflichtet fühlen muss. Aus der Vernunft heraus bzw. aufgrund vernünftigen Nachdenkens lassen sich schließlich moralische Grundsätze bilden.
Haeberlin, Direktor des Heilpädagogischen Instituts der Universität Freiburg/Schweiz, warnt zurecht vor der idealisierten Gleichsetzung von Vernunft und Moral. Würde, Lebens- und Bildungsrecht für Menschen mit geistiger Behinderung lassen sich letztlich nicht vernunftmäßig begründen. Auch eine solche Ethik könne als Selektionsethik missbraucht werden (Haeberlin 1999, 73).  
Nach Kuhlmann, Mitherausgeber der Zeitschrift UNIVERSITAS, solidarisiert die deontologische Ethik ungemein (Kuhlmann 1999, 970). Solche Ethiken des "Wir brauchen"-Typs bestätigen zunächst einmal vor allem sich selbst, z.B.:

"Um unseren Aufgaben in Zukunft gerecht zu werden, brauchen wir mehr Geld"; oder: "Wir brauchen eine Gesellschaft, die Behinderte voll integriert"; oder: Wir brauchen endlich mal wieder Politiker, die mit gutem Beispiel vorangehen und nicht so korrupt sind" – usf.

Solche Appelle lassen schnell Applaus aufkommen, bestätigen aber nur die Gleichgesinnten und vor allem: es beruhigt ungemein, WIR haben's jedenfalls gesagt. Aber ob sich dadurch etwas ändert bleibt fraglich.
Für die Heilpädagogik möchte ich aus der Deontologie die Begriffe 'Prinzipien' und 'Regeln' übernehmen und um ihre Diskussion in Ausbildungs- und Praxisorten werben. Ich will hier nur drei Prinzipien nennen, die mir in meiner heilpädagogischen Arbeit wichtig geblieben sind, und die Ihnen vertraut sein dürften:

a)     da ist zunächst der Hinweis von Paul Moor zu nennen, nicht den Fehler, sondern das Fehlende zu suchen. Die zentrale heilpädagogische Frage lautet: was braucht dieses Kind/dieser Mensch?  
b)     damit hängt das Individualisierungsprinzip zusammen: die Fähigkeiten des Einzelnen suchen und fördern, damit er teilhaben kann in Gruppen
c)      es schließt sich an das Prinzip oder Ziel der sozialen Integration. Sie ist für mich der humane Gegenspieler aller Selektion (Segregation).  

Ein Gedanke noch zu dem Begriff "Regeln".  
Regeln dienen der Orientierung. Sie sollten, etwa in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe, von allen Beteiligten aufgestellt werden, damit sich jeder verpflichtet fühlt, sich an diese Regeln zu halten.
Dieses Sich-verpflichtet-fühlen ist ein ethisches Kernstück.
Das Gegenteil aber ist, nicht zuletzt in unserer Gesellschaft mit ihren abertausenden Vorschriften und Regelungen, zu beobachten: Gesetze und Verordnungen verleiten, sie zu umgehen, sie gerade nicht einzuhalten! Und auf diese Weise wird eine Gesellschaft unmoralisch, ihre Vorbilder entschwinden und eine vermeintliche Cleverness ersetzt die Moral. Zu viele Regeln schließlich, und das wissen alle Kollegen, die in stationären Einrichtungen arbeiten, machen Sanktionen erforderlich: was wenn Regeln missachtet oder verletzt werden?
Ethisches Fazit: Lieber wenige, aber akzeptierte Regeln!
Soweit zur Prinzipienorientierten Ethik.

3.) Diskursethik (Verhandlungsethiken)
Dieser Ethiktyp ist verbunden mit dem Namen Jürgen Habermas (*1929) und dem Begriff der kritischen Theorie.
Zentrales Thema der Diskursteilnehmer ist das der gesellschaftlich produzierten Ungleichheiten und Machtverhältnisse, z.B. die Unterschiede zwischen Armen und Reichen. Ziel der Auseinandersetzungen ist Gleichheit, Transparenz und Herrschaftsfreiheit in sozialen Gesellschaften.
Nach Haeberlin gewährleistet auch ein solcher Diskurs unter vernunftbegabten Gesprächsteilnehmern nicht die Verhinderung einer vernunftbegründeten Selektionsethik.
Dennoch lassen sich aus der Diskursethik Anregungen für die Heilpädagogik entnehmen:
So ist zum Beispiel dafür zu werben, dass in Ausbildungs- und Praxisorten ausreichend Raum auch für sozialpolitische Diskurse gegeben wird. Nach meinem Eindruck sind manche BerufskollegInnen erschreckend unpolitisch, in dem sie ihre Arbeit auf Therapie und Förderung reduzieren und den Kontext ihrer Arbeit und die Lebensbedingungen ihrer Klientel zu wenig beachten.
Zudem scheint die Auseinandersetzung um Haltungen und Tugenden in heilpädagogischen Ausbildungs- und Praxisorten immer wieder notwendig zu sein. Unsere Klientel will nicht nur funktionieren oder Fördermaßnahmen durchlaufen – sie fragt auch nach Sinn und Wert ihres Lebens.

Keine der drei vorgestellten Ethiktypen gewährleisten den Ausschluss einer selektiven Handhabung des Lebens- und Bildungsrechts für Menschen mit Behinderungen! Welcher Ethiktyp fehlt? Welche Ethik braucht die Heilpädagogik? Antworten auf diese Fragen will ich im dritten und letzten Teil geben.

Überlegungen zu einer Heilpädagogischen Ethik (8 Punkte)   (c)

Zunächst müssen wir uns noch mit einem Begriff vertaut machen, der wie ein Zungenbrecher klingt: Speziesismus. Doch er ist vielleicht das Kernstück einer Heilpädagogischen Ethik. In dem Wort Speziesismus steckt 'Spezies' und das bedeutet 'besondere Art'.

(1.) Speziesismus!                               

Die Grundidee des Speziesismus ist, dass jedes von Menschen gezeugte Lebewesen einen unbedingten Anspruch auf Leben hat. Ferner hat jedes menschliche Lebewesen einen Anspruch auf Hilfe zum Leben. Dieses absolute und uneingeschränkte Lebensrecht wird allen anderen Lebewesen, wie Tieren und Pflanzen nicht zugesprochen. (Haeberlin 1999, 74)
Die Vorrangstellung des Menschen in der Natur ist nicht unumstritten. Tierschützer zum Beispiel kämpfen, wie man im Internet verfolgen kann, vehement gegen diesen Speziesismus. Er ist aus meiner Sicht eine Art uneinzuschränkendes Schutzrecht für alle Menschen. Er rechtfertigt keine Willkür gegenüber der Natur.
Für eine Heilpädagogische Ethik ist der Speziesismus ein wichtiger Grundsatz.

(2.) Festhalten an der Bildbarkeit und am Bildungsrecht aller Menschen!

Ich zitiere Haeberlin: "Die Forderung nach Lebensrecht ist nicht sinnvoll ohne Forderung nach Bildungsrecht. Menschsein bedeutet Teilhabe an Kultur. Ein Kind gelangt nur durch Erziehung und Bildung zu dieser Teilhabe. Dazu gehört die Bereitschaft und das Bemühen, nicht einseitig Kinder auf eine normierte Kultur zuzurüsten, sondern Kultur individuellen Voraussetzungen anzupassen" (Haeberlin 1999, 75). Zitat Ende.
Ein Ziel jeder Bildung ist die Fähigkeit unterscheiden zu können. Wer unterscheiden kann ist in die Lage versetzt, auch entscheiden zu können.

(3.) Übernahme von Fremdverantwortung!

Mehr als in den meisten anderen Berufen, übernehmen HeilpädagogInnen Verantwortung für andere Menschen. Und zwar in dem Maße wie andere für sich selbst keine Verantwortung übernehmen können. Das betrifft besonders Menschen mit mehrfachen und schweren Behinderungen.
Die ethischen Fragen an Heilpädagogen könnten lauten:
Würde ich so wie mein Gegenüber leben wollen, wäre ich in seiner Lage? Würde ich so behandelt werden wollen, wäre ich in seiner Lage?
Würde ich mein Kind dieser Heilpädagogin anvertrauen?

(4.) Annahme eines Menschen vor jeder Förderung!

Im März 1999 veröffentlichte Iris Osswald, Mutter eines mehrfachbehinderten Kindes, in der Lebenshilfe Zeitung einen Bericht mit der Überschrift "Die Persönlichkeit wegtherapiert". Darin schreibt sie: Mein Problem bestand von Anfang an nicht darin, zu akzeptieren, dass sich mein Kind nicht so entwickelt wie andere Kinder, sondern darin, einer Horde von Medizinern und Therapeuten standzuhalten. Ein jeder maßte sich an, meine Tochter gerade zu biegen – mit Gewalt wenn es sein musste. Und weiter: "Der Trend, sich über unser Gehirn zu definieren, mag zwar neurophysiologisch begründet sein, lässt aber aus, dass wir Menschen mit emotionalen Fähigkeiten sind und Lebensqualität für jeden anderen etwas anderes bedeutet".
Es mag ja sein, dass die Methoden von András Petö in Budapest, von Carl Delacato und Glenn Doman in den USA , oder von Vladimir Kozijavkin in der Ukraine hilfreich sind für Kinder mit Körperbehinderungen (ich habe keinen Grund das in Frage zu stellen!), sie machen aber all jene zumindest verlegen, die sich Reisen zu diesen Therapeuten nicht erlauben können oder aus anderen Gründen den therapeutischen Aufwand scheuen.
Gerade in diesem Punkt sollten sich HeilpädagogInnen und Eltern fragen, ab wann ein Kind angenommen ist. Ich hoffe nicht erst nach einer erfolgreichen Therapie.

(5.) Heilpädagogische Diagnostik!

Da nicht jeder Mensch mit einer Behinderung automatisch heilpädagogisch bedürftig ist - denn viele Behinderte kommen auch gut ohne Heilpädagogik aus! - braucht heilpädagogische Hilfe eine Indikation, d.h. eine Veranlassung. Der heilpädagogische Bedarf wird in einer diagnostischen Phase ermittelt. Dabei steht die Verhaltensbeobachtung im Zentrum, wichtig können aber auch Testverfahren sein, je nach Kompetenz. Die heilpädagogische Diagnostik dient dem besseren Verstehen des Klienten und trägt zu einer professionellen Förderplanung bzw. Lebensbegleitung bei.

(6.) Heilpädagogisch neue Methoden erfinden und erproben!

Der Ruf nach Rezepten ist noch immer unerhört laut. Rezepte aber sind in heilpädagogisch problemreichen Arbeitsfeldern prinzipiell nicht anwendbar. Daher plädiere ich für mehr Mut, neue Wege zu suchen und anzuwenden. Experimente sollen die Kreativität von HeilpädagogInnen freisetzen.  "Es ist unmöglich, alle Fehler zu vermeiden!" (Popper 1987, 227)
Die Bereitschaft neue Methoden zu erproben, erweitert die Handlungskompetenz eher als der vermeintlich sichere Rückgriff auf Altbekanntes.

(7.) Heilpädagogisches Handeln begründen!

Heilpädagogen sollten bereit und befähigt sein, ihr Handeln zu begründen. Und zwar gegenüber den betroffenen Menschen und ihren Angehörigen, gegenüber Teammitgliedern und auch gegenüber ihrem Rechts- und Kostenträger. Diese Form der Transparenz sollte auch von KollegInnen anderer Berufsgruppen zu erwarten sein. Dokumentationen sollten das Wichtigste der heilpädagogischen Arbeit erfassen aber auch Zukunftsperspektiven einschließen.

(8.) Heilpädagogische Hilfe zur Werteverwirklichung!

Funktionsorientierte Förderungen sind wichtig, die Erfahrungen von Sinn aber mindestens ebenso. Eine ethisch fundierte Heilpädagogik ist eine Hilfe zur Werteverwirklichung. Menschen mit Behinderungen wollen nicht nur be-handelt werden, sie wollen auch handeln und ihre Fähigkeiten wo immer sie können einbringen. Eine heilpädagogische Hilfe bedeutet in diesem Sinne 'Hilfe zur Selbsthilfe'. Nach Viktor Frankl haben alle Menschen drei große Bereiche, in denen sie Sinn erfahren und verwirklichen können:

a.      Sie können etwas erleben! Erlebnisse vielfältiger Art beglücken, machen unser Leben reich.
b.      Sie können sich Aufgaben suchen und dort entsprechend ihrer Begabungen Fähigkeiten erproben und entwickeln.
c.      Sie können kraft ihrer Einstellungen auch in ausweglos erscheinenden Lebenssituationen Sinn finden.

Der Beruf der Heilpädagogin/des Heilpädagogen ist eine nie endende Herausforderung: die Probleme, die wir mit unserer Klientel teilen, sind nicht klar und ohne Weiteres zu lösen. Die Bereitschaft, uns auf den Weg zu machen, ist der Beginn ethischen Handelns.

Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören!

 

 
Autor                      Titel                       Ort                          ISBN                          im Text verwandt:

Antor, Georg und Bleidick, Ulrich Recht auf Leben – Recht auf Bildung Heidelberg 1995 3-89149-204-9  
Bastian, Till Denken – Schreiben – Töten. Zur neuen "Euthanasie" Diskussion Stuttgart 1990 3-8047-1112-X  
Beck – Gernsheim, Elisabeth Technik, Markt, Moral Frankfurt/M. 1991 3-596-10636-2  
Blickensdorfer, Jürg u.a. (Hg.) Ethik in der Sonderpädagogik. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Heinz Bach Berlin 1988 3-7864-0427-5  
Buber, Martin Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre Heidelberg 1986 3-7953-0021-5 M
Bundesverband für spastisch Gelähmte und andere Körperbehinderte e.V. Eingriffe – Angriffe. Über die Bedrohung menschlichen Lebens durch medizintechnische und gesellschaftliche Entwicklungen. Beiträge zur Ethik-Debatte. Düsseldorf 1992 3-910095-14-3  
Gröschke, Dieter Praktische Ethik der Heilpädagogik. Individual- und sozialethische Reflexionen zu Grundfragen der Behindertenhilfe Bad Heilbrunn 1993 3-7815-0747-5  
Haeberlin, Urs  
In: Bundschuh, Konrad u.a. (Hg.)

Ethik in der Heilpädagogik.

In: Wörterbuch Heilpädagogik

Bad Heilbrunn 1999 3-7815-0999-0 M
Hoerster, Norbert Neugeborene und das Recht auf Leben Frankfurt/M. 1995 3-518-288185-6  
König, Karl  
In: Pietzner, Carlo (Hg.)

Mignon. Versuch einer Geschichte der Heilpädagogik.

In: Aspekte der Heilpädagogik

Stuttgart 1969 ohne M
Kuhse, Helga u. Singer, Peter Muß dieses Kind am Leben bleiben? Erlangen 1993 3-89131-110-9  
Kuhlmann, Hartmut Ethikfolgenab-
schätzung
In: Universitas 10/99
Stuttgart ohne M
Lotz, Dieter

In: Kurz, Wolfram u. Sedlak, Franz (Hg.)

Aspekte einer sinnorientierten Heilpädagogik.

In: Kompendium der Logotherapie und Existenzanalyse.

Tübingen 1995 3-9803664-1-3 M
Moor, Paul Heilpädagogik Stuttgart 1974 3-456-30249-5 M
Mürner, Christian (Hg.) Ethik, Genetik, Behinderung. Kritische Beiträge aus der Schweiz Luzern 1991 3-908264-25-1  
Popper, Karl R. Auf der Suche nach einer besseren Welt München 1987 3-492-10699-4 M
Singer, Peter Praktische Ethik Stuttgart 1984 3-15-008033-9  
Singer, Peter Leben und Tod Erlangen 1998 3-89131-120-6  

 

[1] sich dem Schicksal ohnmächtig ausgeliefert fühlend, schicksalsgläubig.


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