Heilpädagogische Diagnostik
Rückblick auf die ersten Fortbildungsseminare (1998 – 1999) und Ausblick


Mit dem Angebot des BHP, qualifizierende Fortbildung in Heilpädagogischer Diagnostik anzubieten, wird offenbar einem hohen Interesse entsprochen. Mehr als 100 Anfragen machten diesen Bedarf deutlich.
Im vergangenen Jahr (1998) wurden die ersten vier Wochenendseminare im Elisabethenstift Darmstadt veranstaltet. Referenten waren der Dipl. Psychologe Prof. Dr. Wolfgang Klenner und der Dipl. Heilpädagoge Dr. Dieter Lotz. Nach unserem Wissen war es die erste Fortbildungsveranstaltung für HeilpädagogInnen in Heilpädagogischer Diagnostik überhaupt.
Nach regelmäßiger Teilnahme erhielten die HeilpädagogInnen ein Zertifikat, das die diagnostischen Kategorien nachweist, in denen exemplarisch während der vier Wochenenden entsprechende Untersuchungsverfahren vorgestellt und erprobt wurden. Im Einzelnen waren dies Anamnese und Gesprächsführung, Beobachtung, Leistungstests, Intelligenztests, Schultests, Entwicklungstests, Motometrische Tests, Fragebogentests, Projektive oder Entfaltungstests.
Im Mai diesen Jahres (1999) endete der 2. Kurs in Heilpädagogischer Diagnostik.

Den Teilnehmern wurde jeweils ein Nachfolgeseminar angeboten, in dem bis dahin gewonnene Erfahrungen mit den besprochenen Untersuchungsverfahren reflektiert und in dem mindestens ein neues Testverfahren vorgestellt wurde. Ein weiterer Inhalt war der Transfer von Testergebnissen mit Blick auf Fördermöglichkeiten.

Den Absolventen steht eine sog. Hotline zur Verfügung, d.h. die Referenten bieten kostenfreie telefonische oder briefliche Beratung an. So z.B. Fragen zur Auswertung und Interpretation von Testverfahren.

Wozu Heilpädagogische Diagnostik?

(1)   Heilpädagogische Arbeit bedarf einer Indikation, d.h. einer im Einzelfall zu begründenden Erklärung. Jeder Mensch braucht zwar per se Erziehung, nicht aber Heilpädagogik. Ferner braucht nicht jeder Mensch mit einer Behinderung Heilpädagogik. Folglich bedarf heilpädagogische Arbeit einer eigenen Rechtfertigung bzw. einer individuellen Veranlassung. Jede Indikation braucht vorab und parallel zur heilpädagogischen Arbeit eine Phase der Diagnostik. Der Begriff 'Diagnostik' ist hier sehr weit zu fassen und meint in erster Linie professionelle Beobachtung und, so fern vom Klienten her gesehen nötig und möglich, auch Testverfahren.
Kompetenzen in Heilpädagogischer Diagnostik erweitern das heilpädagogische Berufsprofil; sie tragen zu mehr Professionalität unseres Berufes bei (Berufsbild).

(2)  Ziel heilpädagogischer Diagnostik ist ein besseres personales und situatives Verstehen von Erleben und Verhalten unserer heilpädagogisch bedürftigen Klientel. Ziel ist nicht Festschreibung oder gar Ausgrenzung, sondern die Optimierung der Erkenntnis über individuelle Entwicklungspotentiale, ihrer Grenzen und Fördermöglichkeiten. Ziel ist letztlich, die persönlichen und strukturellen Voraussetzungen zu verbessern für die Integration und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und einen Beitrag zur Sinnfindung trotz erschwerter Lebensbedingungen zu bieten.

(3)  Die meist psycho- und motologischen Untersuchungsverfahren, die in der Regel nicht speziell für unserer Klientel konzipiert wurden, werden für die heilpädagogisch bedürftigen Menschen in für sie angemessener Art und Weise dargeboten und ausgewertet. Das Heilpädagogische jener Diagnostik besteht also nicht in der Besonderheit der Untersuchungsverfahren, sondern in der Besonderheit unserer Klientel, die eine entsprechende Umgangsweise mit ihr, sowie in der Anwendung und Auswertung von Untersuchungsverfahren erfordern.
Viele Erfahrungsberichte, auch von Teilnehmern unserer Fortbildungen, bestätigen, dass die Durchführungen von Testverfahren durch andere Professionen oft nicht jenen Ansprüchen an das Setting genügen, wie es vorbildlich beschrieben steht etwa in dem Durchführungs- und Auswertungshandbuch zum K-ABC (Kaufman-Assessment Battery for Children). So wurde zum Beispiel aus Kliniken berichtet, dass an einem Tag mehrere Testverfahren durchgeführt werden ohne Kenntnis der psychosozialen Situation des Kindes und ohne Beziehungsaufbau zuvor.

(4)  Testverfahren sind nicht aller Weisheit Ende. Sie vermindern jedoch die bloße Türrahmendiagnose, den bloßen Augenschein, indem sie den Blick für differenzierte Erkenntnisse über einen heilpädagogisch bedürftigen Menschen erweitern. Die Beobachtungen und ihre standardisierten Vergleichsparameter ermöglichen schließlich eine präzise Beschreibung der gewonnenen Befunde.
Konkret dienen Testverfahren, neben den in Punkt (2) genannten Zielen,
– der Bestätigung (Verifizierung) oder Widerlegung (Falsifizierung) von Vermutungen (Hypothesen)
– der weiteren Hypothesenbildung und Entscheidungsfindung
– auch zur Beobachtung

(5)  Nicht alle in unseren Seminaren besprochenen Untersuchungsverfahren finden in der Praxis aller Teilnehmer Anwendung. Einschränkungen begründen sich mit unterschiedlichen Arbeitsfeldern und entsprechender Klientel, individuellen Vorerfahrungen im Hinblick auf die eigene heilpädagogische Ausbildung oder in unterschiedlichen Zuständigkeiten für Diagnostik in den einzelnen Tätigkeitsfeldern.
Daher dienen Kenntnisse über Testverfahren auch
– dem kompetenten fachlichen Austausch mit KollegInnen
– dem besseren Verstehen und kritischen Beurteilen von Fremdgutachten
– dem zielgerechten Weiterverweisen an andere Berufskollegen, z.B. Ärzte,
   Psychologen, Logopäden zwecks weiterer diagnostischer Abklärung.
Spätestens hier wird deutlich, dass nicht nur die heilpädagogische Arbeit sondern auch die Diagnostik notwendiger Teil einer Teamarbeit ist. Durch die Zusammenschau vielfältiger Befunde von verschiedenen Berufsvertretern soll der Bedarf der Klientel, z.B. im Hinblick auf Entwicklungsförderung, möglichst umfassend erkannt werden.

Erste Auswertungen

Das Bildungsniveau der etwa 50 Teilnehmer in den beiden zurückliegenden Kursen war sehr unterschiedlich. Quer durch alle vier Ausbildungsebenen (Fachschule, Fachakademie, Fachhochschule und Universität) wurde von qualitativ und quantitativ unterschiedlichen Ausbildungsinhalten in Heilpädagogischer Diagnostik berichtet. Daher erlebte ein Teil der Teilnehmer die Seminare als Einführung und Überblick, der andere Teil als Wiederholung von bereits Bekanntem. Manchen war der Überblick zu "überfliegerhaft" und zu umfangreich - "less is more!" wurde, nach einem Ausspruch von Mies van der Rohe, von einigen gefordert.

Die Kompetenz, selbst Testverfahren durchführen zu können, wurde von vielen nach Abschluss der vier Wochenenden in Frage gestellt. Besonders diejenigen, die in ihrer Praxis keine Möglichkeit zum kollegialen Austausch über die gewonnenen Erfahrungen mit Testverfahren haben, beklagten ihre verbliebenen Unsicherheiten. Andere wiederum steht in ihren Praxisstellen kein Diagnostikmaterial zur Verfügung und sie können sich auch keines leisten anzuschaffen.
Neben dem divergierenden Bildungsniveau und den verschiedenen Praxisbedingungen muss noch das Problem der vielfältigen Praxisfelder genannt werden. Daher resultierten unterschiedliche Erwartungsschwerpunkte: die einen arbeiten z.B. in der Frühförderung, die anderen mit verhaltensauffälligen Jugendlichen, wieder andere mit schwerstbehinderten Menschen usf.
Besonders heikel stellte sich der Bereich der projektiven Testverfahren dar. Einerseits war hier das Informationsbedürfnis sehr groß, andererseits gab es unterschiedliche Vorkenntnisse über psychoanalytisches Gedankengut. So ist zwar die Präsentation des Untersuchungsmaterials (Sceno, PFT, Schwarzfuß, Familie in Tieren) und der Umgang damit relativ einfach, die Auswertung aber jeweils abhängig einerseits vom Probanden und seinem individuellen Lebenskontext, und andererseits entsprechendem psychoanalytischen Deutungs – Knowhow seitens des Testleiters. Die Bereitschaft der Teilnehmer, die Chance zum exemplarischen Lernen zu nutzen, war unterschiedlich. Manche Teilnehmer scheuten - aus Sicht der Referenten - die Mühe einer theoretischen Aneignung und einer eigenen Transferleistung zur Praxis. Eine "fast-food – Mentalität" war zu bemerken: einige wollten eine Kurzfassung der Testverfahren, um sich nicht der Mühe unterziehen zu müssen, selber die Handbücher der jeweiligen Testverfahren studieren zu müssen. Alles sollte gebrauchsfertig und schnell dargeboten und zu verinnerlichen sein. Die Referenten wollten solche Erwartungen nicht erfüllen.
Ein weiteres Problem seitens der Teilnehmer stellte sich in der Frage, welche Fördermaßnahmen aufgrund bestimmter Testergebnisse entwickelt werden können. Diese zwar wichtige Frage nach der Konsequenz aus den gewonnenen diagnostischen Befunden war jedoch nicht Gegenstand der Diagnostik Fortbildung, sondern ist Teil des Nachfolgeseminars. Dieses ist fallbezogen und bezieht konkrete Erfahrungen mit Testverfahren und entsprechende Förderungsmöglichkeiten mit ein.

Ausblick

(1) Detaillierte Ausschreibung
Die an einer qualifizierenden Fortbildung in Heilpädagogischer Diagnostik interessierten HeilpädagogInnen erhalten zukünftig über die Geschäftsstelle des BHP einen Text, verfasst von den Referenten, über die Inhalte der Wochenendseminare. Daraufhin kann eine Anmeldung erfolgen.

(2) Struktur der Seminare
Die Referenten überlegten, wie die Struktur der Seminare verbessert werden kann. Die bisherige Struktur des Fortbildungsangebotes von vier Wochenenden sollte beibehalten bleiben. Ein fünftes Abschlusswochenende kommt hinzu, an dem die Teilnehmer jeweils von einem selbst durchgeführten Verfahren berichten, den entsprechenden Probanden vorstellen und Förderperspektiven erörtern. Ein Fragebogen zur Selbsteinschätzung wird ausgegeben. Nach Teilnahme an allen fünf Wochendseminaren erhalten die TeilnehmerInnen ein Zertifikat.
Die bisherigen Inhalte werden um die Vorstellung der projektiven Verfahren gekürzt. So bleibt mehr Zeit zur Einübung der anderen Testverfahren.

(3) Zukünftig wird ein Nachfolgeseminar pro Jahr für alle zertifizierten Absolventen angeboten. Dieses Seminar beinhaltet ab dem Jahr 2000:
a) Erfahrungsaustausch über durchgeführte Testverfahren in der jeweiligen Praxis
    (fallbezogen) – Auswertung und Interpretation.
b) Erörterung von entsprechenden heilpädagogischen Fördermöglichkeiten.
c) Vorstellung eines (neuen) Testverfahrens

(4) Nach den Erfahrungen der Referenten korrelieren die unterschiedlichen Bildungsniveaus der Teilnehmer aus den ersten beiden Kursen möglicherweise mit unterschiedlichen Qualitätsstandards von Ausbildungsstätten. Von dieser Stelle aus können wir nur appellieren, in der Ausbildung von HeilpädagogInnen auch die Grundlagen einer Heilpädagogischen Diagnostik zu vermitteln. Insofern haben zur Zeit – im Sinne einer Qualitätssicherung – die Fortbildungsangebote des BHP in Heilpädagogischer Diagnostik auch den Sinn, in der Ausbildung Versäumtes nachzuholen.

(5) Die Teilnehmer an Fortbildungen in Heilpädagogischer Diagnostik müssen sich auf Arbeit einstellen. Die Seminare können letztlich nur zum Selbststudium anregen. Eine Auseinandersetzung mit theoretischen Grundlagen, die den Hintergrund von Testverfahren bilden, wird ebenso erwartet wie die Lektüre von Handbüchern und anderer Literatur zur Diagnostik.
Beispiele für Themen: Intelligenzbegriff, Wahrnehmungskategorien nach M. Frostig, Aggression und Frustration, Körperkoordination, Entwicklungsphasen bei Kindern und Jugendlichen, Grundannahmen psychoanalytischer Terminologie.

(6) Die didaktische Gestaltung der Diagnostik Seminare ist für die Referenten eine Herausforderung besonderer Art. Die zu besprechenden Tests sind sehr teuer und können nicht in ausreichender Zahl allen Teilnehmern zur Verfügung stehen. Dankenswerter Weise hat der BHP zwei Testverfahren (Snijders-Oomen – R 5 ½ - 17 J. und den Kaufmann – ABC) angeschafft und ist zu weiteren Anschaffungen bereit. Das Üben mit den Materialien ist zeitgleich nicht möglich.
Die Vermittlungsaufgabe ist noch nicht befriedigend gelöst. Daran arbeiten wir.
Die Referenten haben zahlreiche eigene Erfahrungen in der Durchführung von Testverfahren, z.B. aus ihrer Berufstätigkeit in einer Erziehungsberatungsstelle. Dennoch entspricht dieser Erfahrungsschatz nur einem relativ kleinen Teil der im Testkatalog des Hogrefe Verlags aufgeführten mehr als 650 (!) Testverfahren. 

Das Curriculum der Fortbildungen für HeilpädagogInnen in Heilpädagogischer Diagnostik ist nach zwei Kursen Erfahrung noch nicht ausgefeilt. Zuviele divergierende Faktoren müssen in Einklang gebracht werden. Die Referenten arbeiten an der weiteren Verbesserung. Sie freuen sich über Zuschriften:

 

Dr. Dieter Lotz   [erschienen in: BHP Informationen 4/1999]