Diagnostische Kompetenz als Voraussetzung professioneller Hilfe

Referat am 05.10.2001 in Zvolen (SR)


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn Menschen mit Behinderungen heilpädagogische Hilfen brauchen, dann sollen diese Hilfen begründet sein.

Diagnostik trägt dazu bei, unser heilpädagogisches Handeln zu begründen.

Ziel einer Heilpädagogischen Diagnostik ist, einen Menschen zu verstehen:

Eine Heilpädagogische Diagnostik ist ganzheitlich, und das meint, sie ist nicht reduziert auf das Funktionale, das Defizitäre oder auf leistungsabhängige Erfolge.

Ganzheitlich meint auch, dass eine Heilpädagogische Diagnostik über das numerisch Messbare hinausgeht, nicht stehen bleibt beim Vergleichbaren (etwa mit Leistungen von Gleichaltrigen) und Menschen nicht ausgrenzt und stigmatisiert. Eine verstehende Diagnostik trägt auch dazu bei, Menschen zu helfen, mit ihren Möglichkeiten am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, sich darin mit ihren Fähigkeiten einzubringen und sich zu integrieren.

 

Ziel heilpädagogischer Diagnostik ist ein besseres personales und situatives Verstehen von Erleben und Verhalten unserer heilpädagogisch bedürftigen Klientel. Ziel ist nicht Festschreibung oder gar Ausgrenzung, sondern die Optimierung der Erkenntnis über individuelle Entwicklungspotentiale, ihrer Grenzen und Fördermöglichkeiten. Ziel ist letztlich, die persönlichen und strukturellen Voraussetzungen zu verbessern für die Integration und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und einen Beitrag zur Sinnfindung trotz erschwerter Lebensbedingungen zu bieten

 

Ich will im Folgenden auf einige Punkte der Heilpädagogischen Diagnostik eingehen. Die Ausführungen haben Aspektcharakter – sie sind nicht vollständig. Sie stellen ein Arbeitspapier dar.

 

Ich beginne mit Hinweisen auf Ausbildungsrichtlinien in Deutschland. Damit ist auf die Bedeutung der Heilpädagogischen Diagnostik als Teil des Berufsprofils von Heilpädagogen hingewiesen.

 

 

1 Ausbildungssituation

In der Bundesrepublik Deutschland steht in allen Richtlinien für die Ausbildung von Heilpädagogen die Forderung nach Heilpädagogischer Diagnostik.

 

Die Studierenden sollen danach:

-         "Beobachtung als unentbehrliche Grundlage der heilpädagogischen Diagnostik erfassen"

-         "Überblick über psychodiagnostische Verfahren gewinnen und deren förderdiagnostische Relevanz einschätzen"

-         "Ausgewählte diagnostische Verfahren üben und anwenden"

-         "Möglichkeiten und Grenzen heilpädagogischer Diagnostik einschätzen"[1]

 

2 Die heilpädagogische Diagnostik als Teil eines professionell Ganzen

In den traditionellen Berufen Medizin und Psychologie war und ist Diagnostik selbstverständlich. Daraus wollen Mediziner und Psychologen bis heute ein exklusives Recht ableiten. Demnach dürften nur sie diagnostisch arbeiten oder Diagnostik veranlassen. Unser Ziel aber ist die gegenseitige Anerkennung verschiedener Diagnosen von unterschiedlichen Berufsgruppen. Diagnostik darf kein "Besitz" sein von bestimmten Professionen.

Der Anspruch einer "genuin heilpädagogischen Diagnostik"[2] ist ganzheitlich, indem sie fachliche Bezugs- und Kooperationsfelder mit anderen Professionen sucht, sich aber selber auch an verschiedenen diagnostischen Prozessen beteiligt.
 

Menschen mit Behinderungen oder psychosozialen Auffälligkeiten sollten je nach Bedarf von Ärzten, Psychologen und Heilpädagogen untersucht werden. 

Die Zielgruppe der Heilpädagogik braucht ein multiprofessionelles Diagnoseteam!

 

3 Zur heterogenen Zielgruppe von Heilpädagogen

Nicht jeder Mensch mit einer Behinderung braucht einen Heilpädagogen. Viele kommen im Leben auch gut ohne Heilpädagogen aus.

Welche Menschen könnten Heilpädagogik brauchen?

 

Beispiele für einen Heilpädagogischen Bedarf:

 

- Menschen mit unklarem medizinischen oder psychologischen Befund.

- Menschen mit Wahrnehmungsproblemen

- Sog. Risikokinder: Kinder mit erschwerten Startbedingungen

- Einsame, isolierte, ausgegrenzte Menschen

- Menschen mit mehreren Behinderungen (unklare Zuständigkeit der Helfer)

- Menschen in jeweils mehreren Problemsituationen (soziale, mentale,
   motivationale)

- Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten oder Deprivationen

- Menschen, bei denen "nichts mehr zu machen ist", sog. Therapieresistente

 

4 Heilpädagogische Entwicklungsförderung braucht eine Indikation

Heilpädagogische Maßnahmen müssen daher im Einzelfall begründet werden. Sie bedürfen einer Indikation, d.h. einer Handlungsbegründung.

- Heilpädagogisches Handeln setzt eine Diagnostische Phase voraus.

    Hier wird der Heilpädagogische Bedarf ermittelt.

- Heilpädagogisches Handeln wird fortlaufend durch Diagnostik begleitet und überprüft.

 

 

5 Beobachtungsergebnisse  führen zu Hypothesen und können fachspezifische Untersuchungen anderer Professionen veranlassen

Heilpädagogen können Untersuchungen von anderen Professionen veranlassen.

Zuvor brauchen sie eigene Hypothesen.

Ein Beispiel: ein Heilpädagoge beobachtet bei einem Kind häufige kurzzeitige Ausfälle der Aufmerksamkeit. Er vermutet Absencen. Er empfiehlt eine neurologische Abklärung. Selbstverständlich diagnostiziert ein Heilpädagoge keine Epilepsie. Aber ohne seine Beobachtung würde eine spezielle Untersuchung vielleicht ausbleiben.

Ein anderes Beispiel: Ein Heilpädagoge beobachtet bei einem Kind ein motorisches Koordinationsproblem. Er vermutet eine Ataxie. Nun kann er weitere Professionen in Betracht ziehen.

Viele Kinder werden nicht speziell untersucht, weil ihre Auffälligkeiten diffus erscheinen. Oft ergeben die Symptome zunächst keine klaren Hinweise und Vermutungen.

Heilpädagogen sind ausgebildet in Beobachtungsverfahren, deren Ziel es ist, Hypothesen zu bilden und zu begründen.

 

 

BEOBACHTUNG

 

6.1 Im Zentrum einer Heilpädagogischen Diagnostik steht die Beobachtung

Heilpädagogische Diagnostik bedeutet zuallererst Beobachtung. Die Beobachtung konzentriert sich

a)    auf das Beobachtbare: das Motorische, die Wahrnehmungsfähigkeiten, das Sozialverhalten, das Sprechen, den lebenspraktischen Bereich.

b)    auf das Interpretierbare: Gefühlsäußerungen (Intrapsychisches), Reaktionen auf biografisch Erlebtes (Erlerntes), Vergleiche mit dem Verhalten der Eltern oder Großeltern (Genetisches).

 

6.2 Beobachtungsmethoden

Von den Beobachtungsmethoden sei hier die systematische Beobachtung hervorgehoben. Mehrere Beobachter protokollieren das Verhalten des Klienten in bestimmten Situationen oder in festgelegten Zeiten und tauschen sich später darüber aus.

Eine Heilpädagogin hatte zu einem Kind einen eigenen Fragebogen entwickelt, der von ihr und ihren Kolleginnen individuell beantwortet und dann zusammengetragen und ausgewertet wurde. Durch dieses Beobachtungsverfahren trug sie zu einer erhöhten Aufmerksamkeit des Kindes durch die Mitarbeiter bei und die stigmatisierenden Vorurteile konnten allein schon dadurch relativiert werden.

 

6.3 Beobachtungen mit allen Sinnen (- etwas be-achten!)

Viele Beobachter konzentrieren sich nur auf ihre visuelle Beobachtung. In unserer heilpädagogischen Ausbildung in Darmstadt machen wir Übungen, wie wir mit unseren Ohren, mit unseren Händen, unserer Haut, mit unserer Nase und unserem Geschmackssinn 'beobachten' können.

 

 

Wir können mit all unseren Sinnen "beobachten":

das Auge blickt (z.B. Farben, Formen; Bewegungen, Stehendes)

das Ohr hört (z.B. Lautstärke; kaum hörbare Geräusche)

die Nase nimmt Düfte wahr (z.B. 'Schulmief'; mit Urin getränkte Wäsche; schöne Düfte)

die Haut fühlt (Temperaturen; unterschiedliche Stoffe)

 

 

6.4 Beobachtungsfehler

Neben der Unterscheidung von Verhaltensbeobachtung und  Verhaltens-

interpretation ist die Kenntnis von Beobachtungsfehlern wichtig. Zum Beispiel das Phänomen der Übertragung und Gegenübertragung, Beobachtungserwartungseffekte, Generalisierung von Einzelmerkmalen.

 

TESTS

 

7.1 Tests als Beobachtungshilfe

Auch ein Test kann im heilpädagogischem Kontext dem Testleiter als Beobachtungshilfe dienen. Dazu muss er die jeweilige Testtheorie kennen.

 

Der Frostig Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (FEW) untersucht zum Beispiel

-         Auge – Hand Koordination

-         Figur – Grund Unterscheidung

-         Form – Konstanz Wahrnehmung

-         Raum – Lage – Wahrnehmung

-         Erfassen räumlicher Beziehungen

 

Defizite in einzelnen Wahrnehmungsbereichen führen zu gezielten Übungsangeboten im motorischen Bereich, die in den möglichst in den Lebensalltag integriert werden.

 

Der Hamburg – Wechsler - Intelligenztest für Kinder (HAWIK) untersucht zum Beispiel

-         Wissensumfang

-         Gedächtnisleistungen

-         Rechnerische Fähigkeiten

-         Wortschatz

-         Perzeption

-         Verstehen und Erfassen sozialer Gesamtsituationen

-         Visuell – motorische Koordination

-         Erfassen von Gesamtzusammenhängen

-         Zielstrebigkeit

-         Ausdauer

 

Einzelne Untersuchungsergebnisse können helfen, ein Kind besser zu verstehen. Wie oft ist schon einem Kind vorgeworfen worden, es könne wenn es nur wolle – die heilpädagogische Erfahrung lehrt: die meisten Kinder wollen, aber sie können nicht! Die Untersuchungsergebnisse verhelfen oft auch Eltern und Lehrern zu einem besseren Verstehen. Dem Kind angepasste Leistungsanforderungen können helfen, unnötige Frustrationen eines Kindes zu vermeiden und seine Eigenmotivation wieder zu steigern. Förderlich sind Erfolgserlebnisse!

 

 

7.2 Das Setting einer Untersuchungssituation

Die meist psychologischen und motologischen Untersuchungsverfahren, die in der Regel nicht speziell für unserer Klientel konzipiert wurden, werden für die Menschen mit heilpädagogischem Bedarf in für sie angemessener Art und Weise dargeboten und ausgewertet. Das Heilpädagogische jener Diagnostik besteht also nicht in der Besonderheit der Untersuchungsverfahren, sondern in der Besonderheit unserer Klientel, die eine entsprechende Umgangsweise mit ihr erfordern.

 

Dieses Setting besteht aus:

-         Beziehungsaufnahme (warming up):
Der Proband soll seine optimalen Fähigkeiten in einer nicht bedrohlichen Atmosphäre zur Geltung bringen. Er muss also mit dem Testleiter und der Umgebung vertraut sein.

-         Testeinführung (Instruktion):
Der Proband soll wissen was ihn erwartet und wozu er untersucht wird. Es soll ihm in Aussicht gestellt werden, dass er über das Testergebnis in verständlicher Weise informiert wird.

-         Testdurchführung: Ein Test ist keine pädagogische Situation! Von daher muss sich der Testleiter an die standardisierten Vorgaben halten. Allerdings brauchen Menschen mit Heilpädagogischem Bedarf Geduld des Testleiters und sie brauchen manchmal auch Pausen. Je mehr ein Testleiter von der Untersuchungsanordnung abweicht, desto eher wird aus dem Test eine Übungssituation. Gleichermaßen nimmt die Vergleichbarkeit des Ergebnisses mit der entsprechenden Eichpopulation ab.

  

7.3 Tests zur Verifizierung und Falsifizierung von Vermutungen

Beobachtungen führen zu bestimmten Vermutungen (Hypothesen), die durch Testverfahren bestätigt oder widerlegt werden können. Auf diese Weise kontrolliert man aktuelle Befunde.

 

Das Thema der "Kontrolle" muss auch mit Blick auf ältere Befunde wieder mehr Beachtung finden. Zahlreiche Befunde, besonders in Akten, bleiben über Jahre hindurch unhinterfragt. Viele menschliche Schicksale scheinen wie eingefroren. Viele Menschen sind wahrscheinlich deplaciert: in Heimen für Behinderte, aber auch in Sonderschulen. 

 

7.4 Tests zur weiteren Hypothesenbildung

Die Ursache (Ätiologie) einer Störung, die Gründe (Kausalitäten) von problematischem Verhalten einzelner Menschen scheinen gerade in der heilpädagogischen Arbeit hier und da undurchsichtig zu sein. Untersuchungsergebnisse verschiedener Professionen können zu einer Hypothesenvielfalt führen, die eine Störungsgenese zu erklären hilft. Heilpädagogen sind aber letztendlich nicht retrospektiv – kausal orientiert, sondern zukunftsorientiert; sie interessieren sich für die finale Frage: wozu verhält sich dieser Mensch so?

 

7.5 Tests als Ausschlussverfahren

Medizinische oder psychologische Untersuchungen beispielsweise können im Ergebnis bestimmte organische oder psychopathologische Ursachen ausschließen. Gerade für Heilpädagogen ist dieser Ausschluss von großer Bedeutung. Erst dann lassen sich heilpädagogische Maßnahmen begründen.

Nehmen wir zum Beispiel ein Kind, das einnässt. Wir schicken es zum Urologen, um eine organische Blasen- bzw. Schließmuskelstörung auszuschließen. Dann fragen wir, was braucht dieses Kind, damit es nicht mehr nötig hat einzunässen? Braucht es vielleicht Zuwendung, menschliche Wärme, Klärung belastender Familienverhältnisse?

 

8 Die heilpädagogische Frage: Was braucht dieses Kind? Was fehlt diesem Menschen?

Das geflügelte Wort "Heilpädagogen arbeiten nicht defizit- oder defektorientiert" bedarf einer Erklärung. Schon Paul Moor hob hervor, dass Heilpädagogen nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende arbeiten sollten. Diese Sichtweise macht uns aber nicht blind gegenüber dem so genannten Fehler oder dem so genannten Defizit. Beide können das Leben des Betroffenen beeinträchtigen und erschweren. Eine Tabuisierung wäre nicht angemessen. Jetzt allerdings, nach der Ermittlung des so genannten Defizits, kommt die entscheidende Wendung hin zum Fehlenden: Was braucht dieses Kind? Was fehlt diesem Menschen? – das sind die eigentlich heilpädagogischen Fragen und Überlegungen!

  

9 Exploration des Subjektiven

In der Heilpädagogischen Diagnostik interessieren uns nicht nur Vergleiche mit der so genannten Eichpopulation (Vergleichsgruppe eines Testes) oder der Bezug zu einer bestimmten Normverteilung (Gaußkurve). Gerade dann, wenn solche Vergleiche "hinken", tritt die Frage nach dem subjektiven Erleben in den Vordergrund: wie erlebt das Kind seine Lebenssituation, wie nimmt das Kind seine innere Befindlichkeit wahr? Mit welchen Augen sieht das Kind seine Welt?

Die Sichtweise des Kindes zu erkunden, ist Teil der Heilpädagogischen Diagnostik.

 

10 Interpersonale und intrapersonale Sichtweise

Wir unterscheiden eine interpersonale von einer intrapersonalen Sichtweise. Eine interpersonale Sichtweise vergleicht einen Menschen mit anderen (z.B. mit gleichaltrigen, gleichgeschlechtlichen Leistungen). Eine intrapersonale Sichtweise vergleicht die Leistungen oder die Entwicklungsschritte eines Menschen mit ihm selbst. Beobachtungen und Entwicklungsbeurteilen hängen von der jeweiligen Sichtweise ab.

 

11 Gedanken zu einer heilpädagogischen Diagnostik unter logotherapeutischem Einfluss

Das Erkennen und Verbessern bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen mit Behinderungen ist nur ein Teilziel Heilpädagogischer Diagnostik und Förderung. Sinnesschulungen, fein- und grobmotorische Fähigkeiten oder lebenspraktische Fertigkeiten sind zweifellos wichtig, aber auch wieder nur eine Voraussetzung – aber für was? Eine Voraussetzung, um aktiv am Leben teilhaben zu können, um Entscheidungen für sich treffen zu können und um Sinnerfüllung zu finden.

 

Eine genuin Heilpädagogische Diagnostik sucht einen Menschen zu verstehen:

 

mit Blick auf seine Biografie:

 

 

mit Blick auf seine Gegenwart:

 

 

 

mit Blick auf seine Zukunftsperspektive:

 

 

 

Meine Damen und Herren,

Heilpädagogische Diagnostik ist historisch betrachtet nicht neu. Um sie heute aber in unserem Beruf neu zu etablieren, brauchen wir noch viele gemeinsame Anstrengungen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!



[1] aus: Rahmenpläne für die beruflichen Schulen des Landes Hessen – Fachschule für Heilpädagogik –

   vom 1.10.1992

[2] aus: Rahmenordnung für die Diplomprüfung im Studiengang Heilpädagogik an Fachhochschulen –
   Stand (Zitat): 1.02.1999

 


   
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