Das Komplementäre der Heilpädagogik zur Sozialpädagogik
[10 Thesen zur heilpädagogischen Standortbestimmung]

  

1. Seitdem der Begriff Heilpädagogik existiert (1861) wird er immer wieder kritisch hinterfragt. Mehr als bei anderen Fachbezeichnungen[1] sucht man beim Begriff "Heilpädagogik" nach schlüssigen Definitionen. Offensichtlich provoziert dieses Wort und vielleicht mehr noch das dahinter Stehende: der Personenkreis für den Heilpädagogik sein soll. Man kommt an einer Operationalisierung[2] des Begriffs nicht vorbei, denn er wird nur unter Beachtung verschiedener Aspekte verstehbar.

2. Der Personenkreis ist heterogen und läßt sich nicht eindeutig über soziologische Merkmale bestimmter Gruppen definieren, wie z.B. Schulklassen, Kindergartengruppen oder spezifische Freizeitgruppen. Insofern ist Heilpädagogik zuallerst Individualpädagogik und nicht Sozialpädagogik.
Heilpädagogen sind primär zuständig für einzelne Menschen, die aus unterschiedlichen Gruppen herausfallen und aus verschiedenen Gründen zum Außenseiter bzw. Randsiedler in unserer Gesellschaft werden. Diese Gründe können sein: Behinderungen, Verhaltensauffälligkeiten, irreversible Probleme (z.B. Trennungen; unheilbare Krankheiten). Durch unvorhergesehene und auch durch Prävention nicht verhinderte Schicksale sind einzelne Menschen in eine bestimmte Individuallage gekommen, in der sie ein subjektiv erlebtes Leid haben können. Eine Individuallage ist durch das weitgehende Fehlen vergleichbarer Kriterien mit denen anderer Menschen gekennzeichnet (kaum vergleichbares Einzelschicksal).
Im Unterschied zur Erziehungsbedürftigkeit, braucht eine "heilpädagogische Bedürftigkeit" (HAGEL) eine eigene Begründung (Diagnose und Indikation).

3. Primäres Ziel der Heilpädagogik ist die Integration jener benachteiligten Menschen in Gruppen, in denen sie je nach individuellen Möglichkeiten leben können (Gemeinschaftsfähigkeit). Insofern ist Heilpädagogik Integrationspädagogik. Heilpädagogik und Sozialpädagogik sollten sich im Idealfall ergänzen, z.B. in Einrichtungen, in denen  Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam leben und lernen. Sozialpädagogen sind allerdings häufig überfordert oder fühlen sich weniger kompetent im Umgang, in der Förderung und Beratung von Menschen mit Behinderungen und ihrer Angehörigen. Oft fehlen ihnen Informationen und Erfahrungen in diesem Bereich.

4. Weil die Kommunikation zwischen Menschen mit und ohne Behinderung[3] in der Regel erheblich beeinträchtigt ist, ist Heilpädagogik ferner auch eine spezifische Kommunikationspädagogik. Kommunikation beinhaltet hier eine besondere Verstehensweise und entsprechende Ausdrucksformen. Verstehen und Mitteilen erfordern in der Heilpädagogik ein besonderes Know how (z.B. der sog. gestützten und basalen Kommunikation), das sich von normalen, meist verbalen Kommunikationsmöglichkeiten unterscheidet. Viele Begegnungen sind existentieller Art, d.h.sie beziehen sich auch auf grundsätzliche Lebens- bzw. Sinnfragen.

5. Die Entwicklung von Menschen mit Behinderung -gleich welchen Alters- bedarf einer bestimmten, der einzelnen Person angemessen Förderung. Heilpädagogik als Förderpädagogik beinhaltet diagnostische und methodische  Kenntnisse. Diese Kenntnisse setzen Wissen und Erfahrungen normaler Entwicklung (insbesondere der Entwicklungspsychologie) voraus, damit einzelne Abweichungen erkannt und beeinflußt werden können. Aus diesem Grund sollte eine einschlägige (normal-)pädagogische Vorbildung vor einer heilpädagogischen Ausbildung erworben worden sein.

6. Wer eine Ausbildung zur Heilpädagogin[4] beginnt, hat eine bewußte Entscheidung getroffen, mit Menschen arbeiten zu wollen, die mit üblicher pädagogischer Beeinflussung nicht mehr erreicht werden. Das wird immer wieder von Studierenden, die meist jahrelange "normalpädagogische" Berufserfahrung haben, bestätigt.
Zur Heilpädagogik gehören auch Kenntnisse  therapeutischer Methoden, die dann modifiziert, dem Einzelfall entsprechend, angewendet werden. Allerdings ist eine heilpädagogische Ausbildung keine therapeutische (Heilpädagogik ist keine "Therapie"). Der ganzheitliche Anspruch der Heilpädagogik meint zunächst eine Absage an eine reduktionistische oder rein funktionale Methodik; dem ganzheitlichen Menschenbild der Heilpädagogik entsprechend ("heil" im Sinne von "ganz"), werden alle für das Individuum notwendigen Hilfen erwogen und zu ermöglichen versucht.

7. Die Heilpädagogin ist "Medium ihres Berufes". Sie ist fachlich nicht an eine Institution gebunden (wie z.B. Einrichtungen des Gemeinwesens: Kindergarten, Schule, Jugendheim etc.). Heilpädagogik kann in allen Institutionen und außerhalb derselben stattfinden. Gleichwohl ist sie auf ein Team mit unterschiedlichen Professionen angewiesen.
Persönlichkeitserfahrungen und -entwicklung (= Rekurs auf die eigene Person) stehen im Mittelpunkt einer heilpädagogischen Ausbildung. Sie verknüpfen sich mit methodischem Know how (z.B. Heilpädagogische Übungsbehandlung, Psychomotorik, Spiel, aber auch in Form von "Elternarbeit").

8. "Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes!" (Moor) - aber nicht jede Pädagogik ist im Hinblick auf Zielgruppe und Methodologie gleichsam  Heilpädagogik.
Auch in der Allgemeinen Pädagogik oder in der Sozialpädagogik lassen sich Vorbehalte finden, mit Menschen mit Behinderungen arbeiten zu wollen. Dies hat unterschiedlich verstehbare, legitime Gründe.

Von der Zielgruppe her gedacht, werden Heilpädagogen als Spezialisten und Generalisten gebraucht. "Spezialisten", die sich auskennen in Behinderungsformen, Verhaltensauffälligkeiten etc. und ihrer Entwicklungsförderungen - "Generalisten", die nicht nur Symptome im Blick haben, sondern gerade auch allgemeine soziokulturelle Werte (z.B. Erziehung, Kunst, Arbeit und Freizeit) beachten und in die Arbeit einbeziehen.
Aufgrund dieser Fähigkeiten haben Heilpädagoginnen die Möglichkeit, andere Pädagogen in Besonderheiten von Beziehungs- und Erziehungsverhältnissen zu beraten und fachlich zu begleiten.

9. Eltern, die ein Kind mit einer Behinderung bekommen, brauchen oft Trost und Beratung, was bis in religiöse Dimensionen hineinreichen kann. Sie wollen für ihr Kind eine umfangreiche, optimale professionelle Förderung und darüber hinaus eine spezifische Lebens- bzw. Berufsperspektive (Sinnfrage).
Heilpädagogik soll Begleitung, Förderung und Integration gewährleisten. Das Ziel der Bemühungen ist zwar immer die Normalität gemeinsamen Lebens und Lernens von Menschen mit und ohne Behinderung. Die Erhaltung einmal gewonnener Normalität wird durch die weiterwirkenden heilpädagogischen Maßnahmen gewährleistet.
Die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen und ihrer Angehörigen verlangt eine eigene Profession, die gleichzeitig als Lobby für Menschen mit Behinderungen auftritt. Dazu ist ein Engagement in Fachverbänden (z.B. Berufsverband der Heilpädagogen; Wohlfahrtsverbände) und in politischen Gremien notwendig.

10. Noch ein Hinweis zum Unterschied von Sonder- und Heilpädagogik: Sonderpädagogen werden an Universitäten ausgebildet und zwar in der Regel für Sonderschulen. Fachschulen und Fachhochschulen bilden keine Sonderschullehrer aus, sondern Heilpädagogen primär für außerschulische Bereiche.



[1]wer fragt schon nach einer entsprechenden Definition der Sozialpädagogik oder der Psychologie?

[2]das heißt: man muß ihn erklären und erläutern.

[3]"Behinderung" ist hier im umfänglichsten Sinne gemeint

[4]Heilpädagogin/Heilpädagoge

 

erschienen in BHP - Informationen 4/1998


 
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