Soziale Integration - ein Trend in unserer Gesellschaft?


Der Begriff Integration stammt aus dem Lateinischen. Integer meint unversehrt, heil, ganz. Er bezieht sich zunächst auf die Integrität einer einzelnen Person und wird auch "personale Integration" genannt. Wer in sich selbst  nicht integer ist, ist desintegriert, zerfällt, die Persönlichkeit zerfällt und gilt z.B. als schizophren.

Wenn wir im sozial- oder heilpädagogischen Bereich von "sozialer Integration" sprechen, so beziehen wir uns meist auf den sozialen oder soziologischen Aspekt: Eine bestimmte Gruppe (oder einzelne aus dieser Gruppe) mit bestimmten Merkmalen unterscheidet sich von einer anderen Gruppe mit eigenen Merkmalen, z.B. Behinderungen. Die Wahrnehmung von Unterschiedlichkeit kann zu der Vorstellung führen, dass auch hier die Einheit gemeinsamer Merkmale zerfällt und genau diese Zerfallsphantasien können bedrohlich wirken. Die eigene Identität und das Sicherheit vermittelnde  Zugehörigkeitsgefühl zu einer 'mir' gleichen Gruppe werden grundsätzlich in Frage gestellt durch die Existenz von Fremdem.

Jeder Mensch weiß, dass jeder Mensch einzig und eigen ist: niemand ist exakt genauso wie ein anderer Mensch. Manche wollen so sein wie andere, sie haben Vorbilder, andere hingegen wollen auf gar keinen Fall so sein wie bestimmte andere. Etwas was uns fremd ist, kann uns magisch anziehen oder total abstoßen. Nehmen wir das Wort Ansteckung: wir wollen uns von Begeisterung, Fröhlichkeit, Positivem anstecken lassen, und wir haben davor Angst, von Krankheiten, mieser Laune und allem Negativem angesteckt zu werden.

Menschen und Gruppen, die sich von anderen unterscheiden, wollen unter ihresgleichen sein. Dort erfahren sie gleiches Schicksal, Verständnis und Angenommensein. Wird aber ein einzelner Mensch oder eine Gruppe ausgeschlossen "vom Rest der Welt", so wird Getthoisierung, Segregation oder Isolation erfahren. Das jeweils Besondere, Eigene und Einzige wird in diesem Fall als Makel erfahren und negativ bewertet.

Die Negativ - Bewertung von Unterschiedlichkeit führt zum Problem.

Ausgegrenzte Menschen und Gruppen können sich minder- oder gar un-wertig erleben, schlimmstenfalls zweifeln sie an ihrer Daseinsberechtigung.

Ohne Unterscheidungsfähigkeit könnten Menschen gar nicht existieren. Hell und dunkel, gut und böse, Frauen und Männer - Unterschiede, ja Un-gleichheiten vermitteln uns Erkenntnisse und Orientierungen. Polarisierungen, Vergleiche und Gegenüberstellungen gehören zu unserem Leben dazu.
Konflikte jedoch entstehen, wenn aus Ungleichheiten Ungerechtigkeiten werden, wenn Unterschiede eine ungerechte Bewertung erfahren, die z.B. in den Begriffen lebensunwertes Leben oder Zwei-Klassengesellschaft zum Ausdruck kommen.

Soziale Integration wird da notwendig, wo Menschen ungerecht (nicht ungleich!) behandelt werden. Dazu ein paar Beispiele:

MENSCHENBILD: Es ist ungerecht, wenn Menschen nicht als Menschen gesehen werden, sondern als Minusvariante ihrer eigenen species

Þ Menschen sind "ohne Ansehen ihrer Person" zu akzeptieren.

Þ "Die Würde des Menschen ist unantastbar" - längst vor jeder Leistung.

ENTWICKLUNG: Es ist ungerecht, wenn die individuellen Potentiale eines Menschen ungeachtet bleiben.

Þ Die Selbstentwicklung, -verantwortung und -bestimmung eines jeden Menschen hat unbedingte Bedeutung und Vorrang vor Fremdeinflüssen.

Þ Die Fähigkeiten eines jeden Menschen müssen gesucht, erkannt und gefördert werden (= Diagnostik, Behandlung, Evaluation).

TEILHABE: Es ist ungerecht, wenn Menschen andere Menschen nicht teilhaben lassen am kulturellen Leben

Þ Der Zugang zu "Kulturgütern", wie Kindergarten und Schule aber auch Kunst und Gemeinschaftsleben (z.B. Kirche, Vereine) muß ermöglicht sein.

Þ Staatliche und kulturelle Angebote müssen von allen Mitgliedern eines Volkes, auch von Minderheiten, grundsätzlich genutzt werden können.

 

Soziale Integration ist ein Prozeß, ein Weg, eine Absicht , ein konkretes Vorhaben.

Wer aber will sich auf den Weg zur Integration begeben? Wer hat warum ein Interesse an Integration?
Welche möglichen Interessen haben Politiker, die "für Integration" eintreten?
Wollen sie Gelder sparen durch Schließung von Sondereinrichtungen?  Haben sie humanitäre Absichten?

Welche möglichen Interessen und Befindlichkeiten haben ErzieherInnen, Sozial- und Heilpädagogen und Lehrer an Integration?
Bei Besuchen in Kindergärten habe ich immer wieder Ängste oder Unsicherheiten von ErzieherInnen vor Kindern mit Behinderungen wahrgenommen:
wie mit ihnen umgehen,
wie den Eltern begegnen,
wie die gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung gestalten?

Mir fiel auf, dass einige ErzieherInnen den Umgang mit Kindern mit Behinderungen oft an die Voraussetzung einer speziellen Ausbildung knüpfen.
Das gibt mir zu denken! Wie steht es mit all den Eltern, die plötzlich ein Kind mit einer Behinderung bekommen? In aller Regel haben sie keine (heil-)pädagogische Ausbildung und müssen sich doch schnell ihrer neuen Aufgabe widmen. Nach meiner Auffassung erfordert der Umgang mit Kindern mit Behinderungen keine besondere professionelle Ausbildung. Menschlichkeit, Offenheit und guter Wille sollten ausreichen, um Kinder mit Behinderungen an- und aufzunehmen.
Aber zur Bewältigung bestimmter Aufgaben sind heilpädagogische Aus- und Fortbildungen notwendig, sie qualifizieren und optimieren die Arbeit. Dazu zählen z.B. Kenntnisse in Diagnostik und Förderung, Konfliktlösungsstrategien, spezielle Fragen zur Arbeit mit Eltern, Informationen über Behinderungen.
Die schulische Integration steckt noch in den Kinderschuhen. Lehrer sind eher auf kollektive (lernzielgleiche) statt auf individuelle (lernzieldifferente) Bildung ausgerichtet. Die Zielvorgaben in den Unterrichtsrichtlinien (Lehrpläne) orientieren sich an der jeweiligen intellektuellen Durchschnittsnorm und in weiterführenden Schulen an überdurchschnittlichen Leistungsstandards.

Je kollektiver Bildungserwartungen erfüllt werden müssen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit 
von Aussonderungen.

Hier liegt das Problem nicht in Bildungserwartungen an sich, sondern in einer lernzielgleichen Unterrichtsdidaktik.

Welche möglichen Interessen haben Eltern von Kindern mit Behinderungen an Integration?
Eltern stehen meist vor einer bestimmten tragischen Trias:
1. Sie bekommen unverhofft und unerwartet ein Kind mit einer Behinderng. Sie haben eine extrem kurze Zeit, sich mit ihrer neuen Situation abzufinden. Die Folgen können sie zunächst nicht überblicken.
2. Sie erfahren nicht selten eine persönliche und gesellschaftliche Kränkung. Die Schuldfrage tritt auf, belastet, bleibt subjektiv unbeantwortet.
3. Sie müssen Entscheidungen für ihr Kind treffen (ohne es unbedingt fragen zu können), damit es in seinem Leben zurecht kommt, damit seine Potentiale optimal zur Geltung kommen - und damit es möglichst glücklich wird.

Den Eltern von Kindern mit Behinderungen fehlen meist  autobiographische Modelle der Lebensbewältigung und -gestaltung. Die Vorstellung "mein Kind soll es mal besser haben als ich" droht subjektiv in das Gegenteil abgewendet zu werden: mein Kind wird es mal schlechter haben als ich.
Oft besteht der subjektive Druck, in der Lebensplanung keinen 2. Fehler (der vermeintlich 1. Fehler war die Geburt des Kindes mit einer Behinderung) zu machen und alles erdenklich Gute für das Kind zu tun.
Oft erst nach langen intensiven Auseinandersetzungen mit existentiellen Fragen (Schuld, Verantwortung, Lebensplanung usf.) tritt jene subjektive Entlastung ein, die ein dem Kind angemessenes und entsprechendes Leben eröffnet.
Oft wollen Eltern, dass ihr Kind "so normal wie möglich" aufwächst. Die vermeintliche "Normalität" orientiert sich dabei häufig an nicht-behinderten Kindern und deren Lebensgestaltung.
Nach meiner Erfahrung ist die konkrete Zukunftsplanung am problematischsten bei Eltern, deren Kind eine zwar erkennbare Behinderung hat, deren Schweregrad und diagnostischer Befund aber uneindeutig und prognostisch unklar ist.
Welche möglichen Interessen haben Eltern nicht-behinderter Kinder an "Integration"?
Eine vielleicht enttäuschende Antwort: sie haben kein originäres Interesse an der Integration! Es gibt ErzieherInnen und Eltern, die in ihrem Leben nie etwas mit "Behinderung" zu tun hatten. Sie haben weder autobiographische Erfahrungen mit Behinderungen, noch jemals eine notwendige Veranlassung, sich mit dem Phänomen "Behinderung" auseinanderzusetzen. Entsprechend fehlt ihnen möglicherweise die Einfühlung in die Problematik.
Anders bei Eltern, die andere Erfahrungen und Lebenseinstellungen haben, biographisch oder beruflich  bedingt (z.B. Pfarrer, Lehrer, Sozialarbeiter).

Þ Eltern von nicht-behinderten Kindern brauchen Angebote, sich mit den Themen Behinderung und Integration zu beschäftigen (Informationsebene).
Sie brauchen eine humanitäre oder religiöse Motivation für diese Auseinandersetzung (emotionale Ebene).
 

Integration müßte/muß von beiden Seiten (gleich welcher Gruppierungen) erfolgen.

Integration ist idealerweise ein wechselseitiger Prozeß! Integration ist auch real ein wechselseitiger Prozeß, nur wissen das Menschen ohne Behinderung meist erst sehr viel später, nachdem sie mit Menschen mit Behinderungen Begegnungen, ja Berührungen hatten. Zunächst mag es unvorstellbar sein, dass "gesunde Menschen" auch etwas von "behinderten Menschen" haben könnten. Der Reichtum, der Gewinn, aber ist unschätzbar und unermesslich!
Welche möglichen Interessen haben "Betroffene" an Integration?
Bei der Beantwortung dieser Frage können Eltern wie Pädagogen nur vermuten.
Je weniger Kinder oder Erwachsene bei Entscheidungen mit einbezogen werden können, desto mehr müssen Entscheidungen für das Kind getroffen werden.
Ich suche Antworten auf die Frage, was mir als Mensch mit einer Behinderung wichtig wäre:
1.) Ich wollte (auch) unter meinesgleichen sein. Mitmenschen, die in der Mehrzahl besser, schneller, rücksichtsvoller, geschickter usf. sind als ich, können mich bedrohen, mich unter einen latenten Leistungs- und Erwartungsdruck setzen, den ich kaum erfüllen kann.
2.) Ich wollte die Vermittlung des Gefühls, als Person angenommen zu sein. Schrecklich die Vorstellung, man wollte mich "eigentlich ganz anders".
3.) Ich wollte Menschen, die meine besonderen Fähigkeiten suchen und aus mir herauslocken und die meine Entwicklung fördern und begleiten. Ich wollte keine Menschen, die mich in Bereichen "fördern", die nicht meinen Begabungen entsprechen. Zentral wichtig sind Wege zur Kommunikation.
4.) Ich wollte Annehmlichkeiten bei öffentlichen Einrichtungen und kulturellen Institutionen, wie sie auch meinen nicht-behinderten Mitmenschen zur Verfügung stehen.
5.) Ich wollte die Gelegenheit, Werte zu verwirklichen, z.B. eine Arbeit, die mich erfüllt, künstlerische Möglichkeiten, gute Beziehungen zu Menschen (einschl. Sexualität), Chancen, mich zu erproben. Die Nutzung von Computer und technischen Hilfsmitteln wäre mir wichtig.

Integration stellt Anforderungen an meine Person (mit und ohne Behinderung): Bin ich stimmig mit mir? Sind meine Lebensziele erreichbar oder utopisch - und: strebe ich sie tatsächlich auch an?
Integration stellt Anforderungen an die Gesellschaft: wo grenzen wir aus, wo sind wir inhuman; wo sind unsere Anstrengungen gefragt zu mehr Mitmenschlichkeit?
Integration stellt Anforderungen an Politiker. Was ist das Leitmotiv: Einsparungen auf Kosten der Schwachen oder Humanisierung sozialer Gemeinschaften und Individuen?
Integration stellt Anforderungen an soziale Einrichtungen (Kindergärten, Schulen, Berufsstätten): kreative, flexible und unkonventionelle Wege sind gefragt. Integration darf nicht verbürokratisiert und verkompliziert werden. Integration ist ein Weg, auf dem Irrwege erlaubt sein dürfen.
Integration stellt Anforderungen an ErzieherInnen und LehrerInnen: Was fördert die Bereitschaft zur Offenheit gegenüber inhomogenen Gruppen? Was fördert den individuellen Blick zugunsten einer vielseitig bereicherten Gemeinschaft? Was leitet konkrete Wege in Richtung Integration ein?
Integration stellt Anforderungen an "Betroffene": Gemeinschaften leben nicht nur in optimalen Strukturen, sondern auch durch liebende, wertschätzende und kritische Begegnungen und Auseinandersetzungen. Wichtig sind auch Belassungen von Andersheiten.
Soziale Integration ist für mich einerseits ein appellativer, andererseits ein systemischer Begriff. Beide Kategorien streben weder nach Endgültigkeit noch nach Ergebnis, sondern verweisen auf einen Prozeß. In dem erläuterungsbedürftigen Begriff 'Integration' stecken viele Aspekte, die in sozialen Einrichtungen und in unterschiedlichen Gruppierungen diskutiert werden müssen. Diese Diskussionen sollten mit einem Erprobungs- bzw. Konkretisierungsanspruch verknüpft werden. Der gegenwärtige Trend, Integration mehr und mehr zu praktizieren, sollte fortgesetzt werden. Einzelintegrationen und vor allem integrative Gruppen in Kindergärten und Schulen sollten vermehrt eingerichtet werden.
Dieser Trend muß unterstützend begleitet werden durch Aus- und Fortbildungen und nicht zuletzt durch Fachberatungen vor Ort.


Dr. phil. Dieter Lotz, Diplom Heilpädagoge. Dozent an der Evangelischen Fachschule für Heilpädagogik im Elisabethenstift Darmstadt. Autor des Buches Heilpädagogische Übungsbehandlung als Suche nach Sinn (Kleine Verlag Bielefeld).

Dieser Aufsatz ist veröffentlicht in TPS (Theorie und Praxis der Sozialpädagogik) extra 29-1998



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