Fiktives Interview mit M. Montessori
Interview mit Maria Montessori (fiktiv) am 31. August 1997 in Nordwijk (NL)
- genau an ihrem 127. Geburtstag -


Lotz
: Liebe und sehr geehrte Frau Montessori! Danke, dass Sie uns für dieses exklusive Interview zur Verfügung stehen. Sie haben der Pädagogik ja ganz entscheidende Impulse gegeben, die bis heute aktuell geblieben sind. Aber wie das so ist, Ihre Nachwelt will gern wissen, wie Sie heute Ihre Pädagogik beurteilen. Insbesondere interessieren wir uns für Ihr Menschenbild und die Grundlagen Ihrer Pädagogik. Aber ich möchte Sie bitten, uns zunächst einige biographische Daten zu nennen.

Montessori: Auch ich danke Ihnen für die Gelegenheit für dieses Interview. Das hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen. Ich habe die Entwicklung 'meiner' Pädagogik immer mit großem Interesse verfolgt und will Ihnen gern Rede und Antwort stehen!
Zunächst sage ich Ihnen mal, welche bekannten Menschen noch in meiner Zeit zur Welt kamen.
Knapp ein Jahr vor mir wurde Mahatma Gandhi geboren, in meinem Geburtsjahr auch Rosa Luxemburg, Alfred Adler und Lenin. Im Jahre 1870 wurde ja auch das Deutsche Reich gegründet.-
Mein Vater war Finanzbeamter und ich erlebte ihn eher konservativ, meine Mutter stammt aus einer Gutsherrenfamilie, und sie war sehr intelligent und für alles Neue aufgeschlossen.
Ich war als Kind, soweit ich mich erinnern kann, zwar friedliebend, aber doch auch sehr selbstbewußt und willensstark.

Lotz: Hatten Sie Geschwister?

Montessori: Nein. Ich war eher eine Einzelgängerin, habe übrigens nicht gern gespielt und war eine brave Schülerin. In Rom, wo ich nach unserem Umzug von Chiaravalle (Provinz Ancona) aufwuchs, ging ich zur Schule. Ich hatte ein besonderes Interesse für Mathematik, und es gab eine Zeit, in der ich Ingenieuer werden wollte. Doch dann, ich war etwa 20 Jahre alt, hatte ich ein eigenartiges Erlebnis: Ich sah auf der Strasse eine Frau mit einem Baby, das einen langen, schmalen, roten Papierstreifen in der Hand hielt. In diesem Moment wußte ich, dass ich Ärztin werden wollte. Warum das wohl so war?

Lotz: Zu dieser Zeit war der Arztberuf doch absolute Domäne des Mannes.

Montessori: Ja, es gab damals sogar eine regelrechte Ärzteschwemme. Mein Berufswunsch war eine Art Vorsehung. Und ich hatte es weiß Gott nicht leicht im Medizinstudium! Allein mein Ziel trieb mich voran. Mein Hauptmotiv war nicht, die erste italienische Ärztin zu werden, sondern ich hatte in erster Linie ein therapeutisches Interesse: ich wollte kranken Menschen helfen. In meiner Doktorarbeit beschäftigte ich mich mit dem Thema 'Verfolgungswahn'; meine Promotionsurkunde erhielt ich 1898.

Lotz: Wie sind Sie nun als Ärztin zur Pädagogik gekommen?

Montessori: Nach meiner Promotion wurde ich Assistenzärztin und eröffnete gleichzeitig eine Praxis in Rom. Ich interessierte mich für die Frauenemanzipation und hatte übrigens zwei Jahre vorher, im Jahr 1896, auf einem internationalen Kongress für Frauenfragen in Berlin einen Vortrag gehalten. In dieser Zeit veröffentlichte ich meine ersten (medizinischen) Fachartikel und, was sehr wichtig war, ich arbeitete zusammen mit Montesano, dem Vater meines Sohnes Mario. Wir bildeten Lehrer für den Unterricht geistigbehinderter Kinder aus. Damals waren die Informationszugänge nicht so einfach wie heute. Aber durch unseren universitären Literaturdienst hatte ich Zugang zu den Schriften und Übungsmaterialien der französischen Ärzte Itard und Séguin.  Im Jahre 1898 wurde ich Mitglied der Liga für die Erziehung behinderter Kinder. Ich setzte mich für die Reform der Erziehung geistig behinderter Kinder ein.

Lotz: Inwiefern wurden Sie durch Itard und Séguin beeinflußt?

Montessori: Als ich geboren wurde, war Itard bereits über 30 Jahre tot; Séguin starb, als ich 10 Jahre alt war. Ich kannte beide also nur aus ihren Schriften.
Itard errang europäischen Ruf, weil er sich sechs Jahre lang mit Bildungsversuchen eines verwilderten Idioten, dem sogenannten Wilden von Aveyron, beschäftigte. Dieses Kind wurde im Alter von ca. 11 Jahren sprachlos in den Wäldern von Aveyron gefunden. Itard gilt als ein Pionier in der systematischen Ausbildung von Geistesschwachen.
Séguin war erst Lehrer, viel später (im Alter von 50) wurde er Arzt. Einen Ausspruch von ihm habe ich behalten, weil er auch meine pädagogische Sichtweise prägte: "Die physiologische Sinnenbildung ist der königliche Pfad zur Bildung der Intelligenz; Erfahrung, nicht Gedächnis, die Mutter der Idee; alle Ideen aber sind Schwestern in Gott, die zur Einheit des Wissens und der Religion hinstreben."
Die Sinnenbildung erfolgte u.a. durch Séguins didaktische Materialien. Dieses Material habe ich weiterentwickelt.

Lotz: Bevor wir uns gleich weiter in pädagogische Themen vertiefen und uns näher mit dem Sinnesmaterial beschäftigen, interessiert mich noch Ihre Beantwortung zweier biographischer Fragen.
Es wird erzählt, dass Sie mit Mode und Körperlichkeit nicht viel im Sinn hatten - stimmt das?

Montessori: Leider ja. Während meines Studiums hatte ich schreckliche Erlebnisse im Anatomiesaal. Ich hatte eine wahnsinnige Abneigung gegenüber den Gerüchen und habe die Bilder dort in unschöner Erinnerung. Diese habe ich nie vergessen können und mein Ekel gegenüber unbedeckten Körpern blieb zeitlebens. Die Konservierungsmittel für die Leichen stanken erbärmlich. Meine ausschließlich männlichen Kommilitonen ließen mich allein im Seziersaal arbeiten. Das war sehr unangenehm!
Außerdem habe ich gern gegessen und ab dem Alter von etwa 28 Jahren nahm ich an Körperfülle zu. Seit dem Tod meiner Mutter 1912 habe ich vorwiegend schwarze Kleidung getragen. Ich war in dieser Hinsicht sehr altmodisch.

Lotz: Meine zweite biographische Frage bezieht sich auf Ihren Sohn Mario. Möchten Sie etwas über Mario erzählen?!

Montessori: Ich war damals sehr verliebt in meinen Mitarbeiter Dr. Montesano, mit dem ich, wie schon gesagt, Lehrer für geistig behinderte Kinder ausbildete. Aus der Beziehung mit Montesano ist unser Sohn Mario entstanden. Das war im März 1898, vier Monate vor meiner Promotion! Sie können sich vorstellen, dass in damaliger Zeit ein uneheliches Kind gesellschaftlich nicht gerade akzeptiert wurde. Außerdem war ich von dem Wunsch getrieben, Karriere zu machen, wie man heute sagen würde.
Mario wuchs bei Freunden auf dem Lande auf. Ich besuchte ihn häufig und nahm ihn im Alter von 15 Jahren zu mir. Seitdem war er mein treuer Begleiter und wir haben uns prächtig verstanden. Später vertrat er ja meine Pädagogik in aller Welt.
Über meine Beziehung zu seinem Vater, Giuseppe Montesano, möchte ich nicht viel sagen. Es hatte mich damals sehr enttäuscht, dass er entgegen unserer Vereinbarung geheiratet hatte. Wie Sie wissen, nicht mich.

Lotz: Das Jahr 1898 war also für Sie sehr wichtig: Geburt Ihres Sohnes, Promotion, erste berufliche Tätigkeiten, Engagement für die Erziehung behinderter Kinder.

Montessori: Das stimmt. Ich unternahm Vortragsreisen in Italien. In London empfing mich 1899 sogar die Königin Victoria. Die Erziehung behinderter Kinder, die Anthropologie und Psychologie lag in meinem damaligen Vortrags- und Studieninteresse. Zudem beobachtete ich Kinder in römischen Irrenanstalten. Einmal fiel mir eine Kindergruppe auf, in der die Kinder wie Gefangene in einem Kerker zusammengepfercht waren. Nach dem Essen stürzten sich die Kinder zu Boden, um die Krümel aufzuheben und damit zu spielen. Darüber war die Aufseherin entsetzt. In dem Raum war keinerlei Spielzeug, und ich fragte mich, ob die Kinder nicht nur nach Nahrung sondern auch nach etwas Höherem hungerten. In dieser Situation habe ich zweierlei erkannt: Kinder drängen nach Bewegung und Beschäftigung, und Kinder suchen die Unabhängigkeit von der Hilfe anderer. Sie wollen Dinge selbst entdecken und damit umgehen und nicht abhängig sein von Erwachsenen.
Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass zwei Menschen (in diesem Falle die Aufseherin und ich) ein und dieselbe Situation beobachteten, jeweils aber unterschiedlich interpretierten. Der Grund verschiedener Interpretationen ist Ausdruck des jeweiligen persönlichen Menschenbildes.

Lotz: Im Alter von 37 Jahren eröffneten Sie die erste Casa dei bambini im römischen Elendsviertel San Lorenzo. Später folgten viele weitere Kinderhäuser.

Montessori: Ja, es war genau am 6. Januar 1907, zu dem von der katholischen Kirche begangenen Epiphaniefest, und ich las das Kap. 60 aus Jesaja zur Eröffnungsfeier.
Wir nahmen etwa 50 ziemlich verwahrloste, aber geistig-körperlich gesunde Kinder auf. Am Anfang waren sie ganz schön verängstigt. Ich organisierte Tische und Stühle, der Größe der Kinder angepasst, und versorgte sie mit meinen Sinnesmaterialien. Nach kurzer Zeit normalisierten sich die Kinder und die Erfahrungen waren für sie wie eine Erweckung!
Sie kennen ja die Geschichte mit dem Einsatzzylinderblock. Ich habe sie schon oft erzählt. Er gehört zu den Sinnesmaterialien und ist einer von vier hölzernen Blöcken. Jeder Block hat 10 Einsatzzylinder, die das Kind einzeln herausnehmen und wieder zurückstecken muß. Jeder Einsatzzylinder hat eine eigene Größendimension.
Ich beobachtete damals ein Mädchen, wie es 44 Mal die Übung mit einem Holzblock wiederholte. Sie war völlig in diese Tätigkeit versunken und anschließend entspannt und glücklich.
Diese Zeit in der Casa dei bambini war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich gab den Lehrstuhl für Anthropologie in Rom auf und übernahm für zwei Jahre die Leitung dieses Kinderhauses. Ab dieser Zeit wandte ich mich von der Arbeit mit behinderten Kindern ab. Ich dachte, was behinderten Kindern hilft, kann auch gesunden Kindern helfen.

Lotz: Ihr Beispiel mit den Einsatzzylindern verweist auf das, was Sie die 'Polarisation der Aufmerksamkeit' nennen.

Montessori: Ja genau. Wenn Sie Kinder beobachten, sehen Sie, dass sie sich selbst konzentriert mit bestimmten Gegenständen, die zu ihrer natürlichen und notwendigen Entwicklung gehören, beschäftigen. Das Kind ergreift diese Gegenstände spontan entsprechend seines momentanen Interesses.
Heute beachtet man diese sensiblen Phasen eines Kindes zu selten. Außerdem werden Kinder heute zu oft gestört, wenn sie gerade in einer konzentrierten Tätigkeit versunken sind.

Lotz: Sie sprachen eben von "sensiblen Phasen"

Montessori: Sensible Phasen in Form unbedingten Interesses während der kindlichen Entwicklung müssen wir in der pädagogischen Arbeit immer wieder beachten und unterstützen!
Der Holländische Biologe Hugo de Vries sprach von sensitiven Entwicklungsperioden. Er beobachtete Schmetterlingslarven bei der Nahrungssuche. Ausgelöst durch bestimmte Umweltreize reagiert der Organismus spontan auf diese Reize. Sie haben den biologischen Sinn, in einem Lebewesen bestimmte Funktionen und Eigenschaften auszubilden. Ist dies einmal erreicht, verliert sich die Empfänglichkeit für diesen Reiz. Daher gilt es als außerordentlich schwierig, jene Erfahrungen nachzuholen.
In der kindlichen Entwicklung gibt es sowohl physiologische Reifungsperioden, also Zeiten besonderer Empfänglichkeit, als auch Zeiten besonderer Bereitschaft für den Erwerb ganz bestimmter Fähigkeiten.

Lotz: Können Sie bitte ein Beispiel einer 'sensiblen Phase' nennen.

Montessori: Gern. Nehmen Sie die Zeit des Spracherwerbs bis zum Alter von etwa 2½ Jahren. Nach innerer Vorbereitung, in der der sog. passive Wortschatz geprägt wird, treten die äußeren hörbaren Zeichen des jeweiligen Fortschritts explosionsartig auf: das intensive Lallen ab dem 6. Lebensmonat etwa, mit 10 Monaten begreift das Kind, dass Sprache eine Bedeutung hat, nach etwa 12 Monaten wird bewußt das erste Wort ausgesprochen, und mit etwa 15 Monaten versteht das Kind den Sinn von Worten und hat eine eigene Sprache. Schließlich kann es mit ungefähr 21 Monaten Sätze aus eigenen Worten bilden.
Gerade die ersten Lebensjahre sind durch den absorbierenden Geist gekennzeichnet. Er kann definiert werden als die noch unbewußte, aber aktive Lernbereitschaft eines Kindes für alles menschlich Bedeutsame. Das Kind, ausgestattet mit schöpferischer Energie, saugt "seine" Umwelt geradezu auf und integriert sich gleichzeitig in dieselbe. Das Kind lernt durch seine Erfahrungen, die Welt zu be-greifen und zu be-deuten.

Lotz: Durch die Begriffe 'Polarisation der Aufmerksamkeit', 'sensible Phasen' und 'absorbierender Geist' haben Sie zentrale Punkte Ihrer Entwicklungspädagogik erläutert.
Diese inneren Entwicklungsphänomene wirken sich aber optimierend nur in einer vorstrukturierten Umgebung aus.
In welcher Beziehung sehen Sie das Prinzip der freien Wahl zu der (didaktisch) vorbereiteten Umgebung?

Montessori: Während das Kind passiv scheint und absorbiert, hat es eine enorme Lernbereitschaft und Lernfähigkeit. Daraus folgen Konsequenzen für Eltern und Erzieher: Das Kind entwickelt sich zwar völlig allein, ist aber auf Anreize seiner Umwelt angewiesen. Wir Erwachsenen können einem Kind nur Voraussetzungen, also Bedingungen schaffen, in denen sich ein Kind dann selbsttätig entfalten kann. Je anregungsreicher das Milieu gestaltet ist, desto größer sind die Entwicklungschancen eines Kindes.
Wir Erwachsenen beeinflussen das kulturelle Niveau mit und müssen folglich die Umgebung des Kindes vorbereiten. Dazu gehört die materielle Vorbereitung, wie z.B. Einrichtungsgegenstände, die den Größenverhältnissen der Kinder entsprechen, die Bereitstellung von Sinnesmaterialien und die Ästhetik der Umgebung. Kein Kind wüßte, wie es sich seine Umgebung allein gestalten könnte. Verwahrloste Kinder, die in einem anregungsarmen Milieu aufwachsen, sind kaum in der Lage, ihr eigentliches Entwicklungspotential zu entfalten.
Zur vorbereiteten Umgebung zählt aber auch die Vorbereitung des Erwachsenen im Sinne der Persönlichkeitsbildung. Die Einstellungen bzw. Haltungen des Erziehers prägen den Umgang mit dem Kind. Die Liebe zum Kind bedeutet u.a., sich als Erwachsener zugunsten des Kindes zurücknehmen zu können, damit es aktiv werden kann. Es handelt sich hier um die Begrenzung des Einschreitens. Dem Kind muß geholfen werden, wo das Bedürfnis nach Hilfe da ist. Hilf mir, es selbst zu tun!
Das Prinzip der freien Wahl, bzw. die Freiheit des Kindes, besteht immer innerhalb einer wie auch immer gearteten, vorgegebenen Ordnung. Das Kind hat freien Zugang und freie Wahlmöglichkeiten dem Material gegenüber.
Es gehört zur Verantwortung der Erwachsenen, für die persönlichen (ethischen) und materiellen Voraussetzungen zu sorgen. In diesem Rahmen entwickeln sich dann Kinder selbstgemäß.
Freiheit in Grenzen führt das Kind zum Verstehen der Gesetze des Lebens. Freiheit bedeutet ja nicht Grenzenlosigkeit. So birgt jede vorbereitete Umgebung auch Grenzen in sich.

Lotz: Was halten Sie im Zusammenhang der vorbereiteten Umgebung vom "Situationsansatz"?

Montessori: O ja, ich habe davon gehört. Man möchte sich auf die Kinder und ihre aktuellen Lebens- und Interessens - Situationen einstellen, Impulse aus ihrer Lebenswelt aufgreifen. Die Erzieherinnen  möchten sie darin partnerschaftlich begleiten und sie eigenverantwortlich in Entwicklungsprozesse mit einbeziehen. Im Grunde ist das ja auch mein Anliegen: Das Kind entwickelt sich selbsttätig. Aber wir kommen nicht umhin, als Erwachsene zunächst einmal verantwortlich zu sein für die Umgebung des Kindes. Das Material, aus dem ein Kind auswählt, findet es zunächst vor. In konkreten Situationen lernt es zu unterscheiden und dann zu entscheiden. Wir sind als Erwachsene für die Vielfalt und Qualität der Materialien und Situationen, in denen wir leben, mit verantwortlich. Wir brauchen ein Ordnungsgefüge, innerhalb dessen sich ein Kind orientieren kann. Ich möchte an dieser Stelle die Erwachsenen zu einer ökologischen Verantwortung ermahnen.
Der Situationsansatz läßt sich nur in einem vorbereiteten Kontext verwirklichen. Schließlich gehört es zu der Verantwortung der Erzieher, Themen und Probleme der Kinder aus ihrer individuellen Lebenswelt ernst zu nehmen und zum Inhalt der Kinderhaus-Pädagogik zu machen. Ich möchte aber doch darauf hinweisen, dass eine Kindergruppe nicht immer homogene bzw. kollektive Interessen hat. Meine Pädagogik beachtet vorrangig die individuelle Entwicklung eines Kindes. Soziales Lernen ist dadurch keinesfalls ausgeschlossen!

Lotz: Manche werfen Ihnen vor, die Ordnung der Dinge sei Ihnen wichtiger als Kreativität.

Montessori: Ordnung und Kreativität hängen untrennbar miteinander zusammen. Das sind keine Gegenpole. In einer Bibliothek, im Straßenverkehr, im Umgang mit Computern, in sozialen Beziehungen usw. wäre eine Orientierung ohne Ordnungssysteme unmöglich. Innerhalb derer werden freie Entscheidungen, Variationen und Modifikationen erst sinnvoll.
Ich gebe zu, immer noch Mühe zu haben, die Zweckentfremdung von Gegenständen zu akzeptieren, beispielsweise, wenn ein Kind mit einem Briefbeschwerer Auto "fährt". Ich sollte neu über den Begriff Kreativität nachdenken.

Lotz: Lange Zeit durfte in "Montessori Einrichtungen" nur Ihr Material verwendet werden. Puppen, Knetgummi und anderes "kreative Material" waren verpönt.

Montessori: Bestimmte Materialien und Arbeitsprinzipien machen ja eine Methode aus. Werden sie mehr und mehr aufgeweicht, so bleibt vom Ursprünglichen letztendlich nicht mehr viel übrig. Meine Kritiker warfen mir ja auch vor, mein Ansatz sei zu kopflastig. Mein Anliegen aber war immer, durch Ordnung und Disziplin zur Freiheit zu gelangen. Solange Ordnung und Disziplin zur Selbstbestimmung führen, ist sie akzeptabel. Beliebigkeit und Relativismus führen nicht unbedingt zur Freiheit.
Solange ErzieherInnen und Lehrer Einrichtungen in meinem Namen führen, sollen auch meine Materialien und vor allem meine Prinzipien gelten. Denken Sie nur an das Prinzip der Fehlerkontrolle. Ein Kind, das mit meinen Sinnesmaterialien übt, erfährt im Umgang mit dem Material, ob es richtig oder falsch damit umgeht. Dadurch ist es von der Bewertung eines Erwachsenen unabhängig. Die Fehlerkontrolle entfällt im kreativen Umgang mit Materialien, weil es dabei kein 'richtig' und 'falsch' gibt. Das kann ja auch positiv sein.
Wenn meine Prinzipien beachtet bleiben, können Materialien und Methoden auch weiterentwickelt und erfunden werden. Ein Dogmatismus befreit eben auch nicht. Übrigens hörte ich, dass in der Heilpädagogik mein Material für die Arbeit mit behinderten Kindern adaptiert wurde. Ich finde das sehr sinnvoll!

Lotz: Vorbildlich ist hier sicher das Kinderzentrum, die Aktion Sonnenschein, in München, wo auf der Grundlage Ihrer Theorie heilpädagogisch gearbeitet wird. Kürzlich erschien ein Buch zur "Montessori - Therapie" von Lore Anderlik. Dort sind zahlreiche Übungsideen für die Arbeit mit behinderten Kindern beschrieben.
Jetzt aber bitte ich Sie, kurz Ihre Materialien vorzustellen.

Montessori: Grundsätzlich geht es mir um die individuelle und soziale Entwicklung des Kindes.
Zu den Übungen des täglichen Lebens gehört zunächst die Bewegungserziehung. Das Kind erinnert sich zuerst an die gesehene Bewegung und dann erst an die damit verbundenen Worte. Daher werden die Bewegungen mit Wort-Lektionen verknüpft. Das entspricht dem kindlichen Auffassungsvermögen und fördert gleichzeitig sein Gedächtnis.  Zu den Übungen des täglichen Lebens zählen drei Bereiche, unabhängig von deren Reihenfolge.
So geht es etwa darum, dass ein Kind sich in einem Raum bewegt, vielleicht einen Gegenstand trägt, ohne dabei andere Kinder im Raum zu stören. Dann geht es um die Pflege der eigenen Person, von der Körper- bis zur Kleiderpflege. Der dritte Bereich umfasst die Sorge für die Umgebung, wie z.B. Blumenpflege und Tischdecken. Im Sozialverhalten sollen die Kinder Umgangsformen einüben, lernen, Regeln einzuhalten, aber auch Arbeiten für andere zu übernehmen.
Die Sinnesmaterialien dienen in etwa 10 Sinnesbereichen dazu, zunächst isolierte Unterscheidungen treffen zu können, um diese dann in allen Gegenständen des täglichen Gebrauchs einzusetzen. Ich will sie kurz mal aufzählen: Gesichts- und stereognostischer Sinn (Unterscheidung von Dimensionen, Farben, Formen); Tastsinn; Barischer Sinn (das ist der Sinn für Schwere); Gehörsinn; Wärmesinn; Geschmackssinn; Geruchssinn; Gesichts- und Formensinn (hier z.B. die visuelle Unterscheidung geometrischer Figuren).
Die Sinne sind ja der Schlüssel zur Welt, zur Wahrnehmung, zum Denken und zur praktischen und abstrakten Orientierung.
Der Anwendung des Sprachmaterials gehen Fingerspiele, Lieder, Reime etc. voraus.
Es folgen metallene Einsatzfiguren mit geometrischen Formen, Sandpapierbuchstaben und schließlich Wortkarten, die Dinge des täglichen Lebens aufgreifen. Sie sind, wie alles Material, an den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtet. Auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus wird die Vorstellungskraft eingeübt, als Voraussetzung des Sprechens und der verbalen Auseinandersetzung. Wer Begriffe verfügbar hat, muß zuvor etwas be-griffen haben. Wer sprechen kann, muß eine Vorstellung jener Begriffe haben. Ganz einfach, nicht wahr?

Lotz: Das hört sich sehr abstrakt an. Die sog. Dreistufenlektion beschreibt den Lernvorgang konkret.

Montessori: Ja, die Materialien werden in drei Stufen eingeführt:
In der ersten Stufe stellt die Erzieherin den Bezug zwischen Gegenstand und Begriff her, d.h. sie benennt den Gegenstand: "Das ist ein Ball!"
In der zweiten Stufe wird der passive Wortschatz verlangt: die Erzieherin bittet das Kind, den zum Begriff gehörenden Gegenstand zu holen: "Bring mir den Ball!"
Erst dann folgt die dritte Stufe, in der das Kind aufgefordert wird, selbst den Gegenstand zu benennen: "Was ist das?"
Sie wissen ja: nach dem Be-deuten (nonverbal) folgt das Be-nennen (verbal).

Lotz: Doch zurück zu den Materialien...

Montessori: Zu erwähnen bleibt noch das Mathematikmaterial. Der Mensch hat einen "mathematischen Geist", wie es Pascal ausdrückte. Er zieht Vergleiche, bildet Serien oder Klassifikationen. Rosa Turm, braune Treppe oder die erwähnten Einsatzzylinder bereiten u.a. die mathematische Erfassung der Welt vor. Zum Mathematikmaterial gehören beispielsweise die 10 blauroten bzw. numerischen Stangen, mit denen das Kind die Mengen 1-10 kennenlernen soll und damit Einsicht in das metrische System erhält. Bei den Sandpapierziffern lernt das Kind den Zusammenhang von Namen und Symbol. Mit den 45 Spindeln wird die Zahlenmenge 0-9 erfahren. Die Erfahrung des Zahlenbegriffs Null ist jedesmal ein besonderes Erlebnis!
Ferner möchte ich die kosmische Erziehung erwähnen und einige ihrer Themenbereiche gern einmal aufzählen: Botanik, Zoologie, Geographie, Geschichte, Geometrie, Ethik, Kunst, Anthropologie, Evolution und Umweltschutz. Ich würde heute von der Notwendigkeit einer Erziehung zur Ökologie sprechen.
Sämtliche Materialien in den Kinderhäusern und Schulen sind jeweils nur einmal vorhanden. Diese Beschränkung gibt Anlaß für viele Sozialkontakte.

Lotz: Ich möchte Sie zum Schluß unseres Gespräches bitten, uns noch etwas zur Stilleübung zu sagen.

Montessori: Gern. Stilleübungen scheinen mir gerade in der heutigen Zeit sehr notwendig zu sein. Unsere Kinder leiden doch häufig unter Reizüberflutung!
Ich verstehe unter Stille nicht nur die Verminderung von Geräuschen. In der Stille wird geübt, alle Bewegungen einzustellen. Zur Vorbereitung gehört, alle Materialien vom Tisch zu haben und zur Stille bereit zu sein. Jede feierliche Sache muß vorbereitet werden.
Wenn alle Kinder still sind, können sie beispielsweise aufgefordert werden, alle verbleibenden Geräusche zu hören. Oder: die Erzieherin nennt ein Kind bei seinem Namen, läßt es zu sich kommen und erteilt ihm eine Aufgabe, die möglichst ohne Geräusch auszuführen ist. Die Stilleübung kann auch als unmittelbare Vorbereitung für das Erzählen einer Geschichte dienen.
Durch die Stilleübung werden die Kinder sensibel für Geräusche. Sie befinden sich in einer verfeinerten, subtileren Welt. Kinder können Stille als einen wohltuenden Kontrast zu Hektik und Lärm erleben.

Lotz: Liebe Frau Montessori, Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

 

erschienen in TPS (Theorie und Praxis der Soziapädagogik) extra 28 (1997)


[Maria Montessori, geb. am 31.08.1870 in Chiaravalle (bei Ancona in Norditalien) starb am 06.05.1952 in Noordwijk-an-Zee (in den Niederlanden)]


 

Literaturauswahl:

Anderlik, Lore: Ein Weg für alle! Leben mit Montessori. Montessori-Therapie und -Heilpädagogik in der Praxis. Dortmund 1996

Böhm, Winfried (Hg.): Maria Montessori. Texte und Gegenwartsdisskussion. Bad Heilbrunn 1984

Haberl, Herbert (Hg.): Integration - Die Vielfalt als Chance. Möglichkeiten der Montessori-Pädagogik. Freiburg 1995

Hane, Willy: Maria Montessori. Eine Wegbereiterin der modernen Erlebnispädagogik? Lüneburg 1994

Heiland, Helmut: Maria Montessori. Rororo - Monographie. Reinbek 1991

Hellbrügge, Theodor: Unser Montessori Modell. Erfahrungen mit einem neuen Kindergarten und einer neuen Schule. Frankfurt 1989

Holtstiege, Hidegard: Freigabe zum Freiwerden. Freiburg 1997

Kallert, Heide u.a. (Hg.): Außenansichten der Montessori- und der Waldorfpädagogik. Ein Lesebuch. Frankfurt 1994

Kramer, Rita: Maria Montessori. Leben und Werk einer großen Frau. Frankfurt 1983

Montessori, Maria: Grundlagen meiner Pädagogik. Heidelberg 1968

Montessori, Maria: Kinder lernen schöpferisch. Die Grundgedanken für den Erziehungsalltag mit Kleinkindern. Freiburg 1995

Montessori, Maria: Das Kind in der Familie. Stuttgart 1954

Montessori, Maria: Kinder sind anders. München 1995

Montessori - Vereinigung e.V.: Montessori - Material, Teil 1. Zelhem 1978

Olowson, Anke: Die Kosmische Erziehung in der Pädagogik Maria Montessoris. Freiburg 1996

Standing, Edward, M.: Maria Montessori. Leben und Werk. Stuttgart 1959

von Oy, Clara Maria: Montessori Materail zur Förderung des entwicklungsgestörten und des behinderten Kindes. Ravensburg 1978

Ausbildungsanfragen:

Montessori - Vereinigung e.V.
Xantener Str. 99
50733 Köln
Tel.: 0221 - 7606610



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